"Kann man als Monster sehen?"


Kritik

Es wird viel gelacht, zwischendurch sogar geschrien. Die Stimmung im Foyer des Theater an der Ruhr ist ausgelassen, aber konzentriert. „Kann man als Monster sehen?“ und „War das schwer, die Arme so zu halten?“ – in den Gesprächen nach den Inszenierungen der KinderStücke tauchen Fragen auf, die Erwachsene wohl kaum für fragenswert hielten. Oder sie würden sich nicht trauen, sie zu stellen. Beim jungen Publikum ist das anders. Dessen Fragen sind konkret, spontan, nah dran am echten Leben, unkompliziert allenfalls auf den ersten Blick.

Ab 2007 liefen Kinderstücke im Rahmenprogramm der Mülheimer Theater. 2010 wurden die „KinderStücke“ ein eigener Wettbewerb, inhaltlich und konzeptionell unterscheidet der sich kaum vom Erwachsenen-Wettbewerb. In diesem Jahr sind fünf Stücke in neun Aufführungen an fünf Tagen im Theater an der Ruhr und im Ringlokschuppen zu sehen. Heute geht es für dieses Jahr mit Oliver Schmaerings „In dir schläft ein Tier“ in die letzte Runde.

Auch während der Inszenierungen ist die Dynamik im Publikum eine ganz andere als im Erwachsenen-Theater. Zeigen die Schauspieler:innen auf einen Punkt außerhalb des Bühnenraums, drehen sich kollektiv die Köpfe. Auf laut gestellte Fragen gibt es laut gerufene Antworten. Schwierig für die Schauspieler:innen? Ganz im Gegenteil, sie kennen das und gehen damit souverän um. Rückmeldung wird entweder gekonnt übergangen oder spontan ins Spiel integriert. Und das wird nicht nur direkt mit Applaus, sondern auch mit lauten Zurufen und Fußstampfen belohnt.

Die Kinder und Jugendlichen sind kaum oder überhaupt nicht mit den gesellschaftlichen Konventionen eines Theatergangs vertraut. Aber Dank der Workshops mit Theaterpädagogin Lisa Hetzel sind viele besser vorbereitet als so mancher erwachsene Theatergänger. Denn sie kennen bereits das Thema des Stückes und haben sich im Vorfeld darüber ausgetauscht. Neben den Besuchen von Schulklassen wurden auch gemeinsam mit Sozialpädagog:innen Workshops speziell für Mülheimer Kinder aus Flüchtlingsunterkünften eingerichtet. Besonders einprägsam dürfte der vertiefende Umgang mit Simon Windischs „Wie man die Zeit vertreibt“ für die zweite Jahrgangsstufe der Mülheimer Zunftmeisterschule gewesen sein: Sie erprobten mit Lisa Hetzel eine Szenencollage, die sie vor der Inszenierung am Dienstag präsentierten.

„Sind die beiden ein Paar?“

„Ist bei den Proben viel schiefgelaufen?“, „Wie wird die Musik gesteuert?“ Nach den Inszenierungen beantworten die Schauspieler:innen, Regisseur:innen, Autor:innen und Theaterpädagog:innen die Fragen des jungen Publikums. Trotz lautstarker Beteiligung herrscht dabei meist beeindruckend aufmerksame Stimmung. Keiner möchte die Antworten verpassen. Wenn es nicht gerade frisch gebackene Waffeln gibt, sind alle eher aufgeregt als abgelenkt. Immer dabei: die Frage nach dem Alter der Schauspieler – inklusive ausweichender Reaktionen darauf. Und: die Frage, woher die Idee für das Stück kam.

Die Kinder und Jugendlichen glänzen mit Fragen auf allen Ebenen des Verständnisses. Sie fragen nach Handlungsdetails, Gründen und Motiven, Schwierigkeiten bei der Umsetzung und Schauspielerischen Kompetenzen genauso wie nach Probenabläufen, Probenzeiten, Rollenbesetzung, technischen Hilfsmitteln, Möglichkeiten beim Schauspielern und dem Schreibprozess. Teilweise sorgen die Fragen des jungen Publikums dabei nicht nur für Schmunzeln oder offenes Gelächter von Seiten der Erwachsenen, sondern auch für Überraschungen von Seiten der Kolleg:innen. Zum Beispiel als Thilo Reffert nach „Mr. Handicap“ verkündet, er suche sich die Namen für seine Stücke aus den Online-Listen der häufigsten Vornamen.

Ein Kuss auf der Bühne erregt besondere Aufmerksamkeit. „Sind die beiden ein Paar?“, „Habt ihr euch in den Proben auch geküsst? War das eine Überwindung?“ Fragen, die schnell mit einem Lächeln quittiert werden. Doch Schauspieler Paul Jumin Hoffmann antwortet nach „Mr. Handicap“  ehrlich und vollkommen ernst: „Im echten Leben hätte ich mehr Schiss, jemanden zu küssen, den ich noch nie geküsst habe, als auf der Bühne.

„Da spricht man Spanisch“

Manchmal nutzen die jungen Zuschauer:innen das Nachgespräch auch, um ganz einfach und direkt ihre Eindrücke zu kommunizieren. „Sie haben sehr schön gesungen.“ Oder: „Ich finde, der Martin hat ´ne ziemlich coole Frisur.“ Über diese ehrlichen Komplimente können sich die Schauspieler:innen nur freuen.

„War es warm in den Jacken?“ – „Ja, der Schweiß war echt“. Manche Fragen sind leicht zu beantworten. „Darf ich auch mal durch das Loch springen? Wo kann man das lernen? Habt ihr schonmal in einem Film mitgespielt? Wie lange habt ihr geprobt?“ Kompliziertere Fragen werden gerne erst mal zurück in die Runde gegeben. „Warum ist Hundi verschwunden?“ Die einfache Antwort aus dem Publikum ist rührend und zeigt ein tiefes Verständnis von „Anfall und Ente“: „Vielleicht wollte er, dass Ente am Ende glücklich ist“. Und was ist nun das „Zwischen“, in dem Hundi am Ende landet? Ein Spalt zwischen zwei Wänden, ein Land oder doch der Raum zwischen Weltall und Erde? Eins steht jedenfalls fest: „Da spricht man Spanisch!“

Bunt, laut und schnelllebig

Im Anschluss an „Mr. Handicap“ erzählt das Ensemble zunächst von seinen bisherigen Erfahrungen. Die ersten Reaktionen auf das Stück seien zurückhaltend gewesen. Inklusion, Behinderung, diese Themen schienen abschreckend ernst gewirkt zu haben. Aber mittlerweile kämen die Leute gerne und würden viel lachen. Auch in Mülheim spricht das Junge Schauspiel Düsseldorf seinen Dank für die positive Rückmeldung aus.

Die thematische Fächerung der diesjährigen Nominierungen ist erkennbar breit: Die fünf Stücke behandeln neben üblichen Themen wie Familienkonflikte, Freundschaft, Identität und Schule einerseits spielerische Themen wie Langeweile, Träume und die Kraft der Fantasie, aber auch große und komplexe Themen wie Rassismus, Wut und Rache, Inklusion, wissenschaftliche Forschung und die Frage nach Anfang und Ende. Aber irgendwie gelingt es den Ensembles, das alles heran zu holen und zu zeigen, wie alltagsnah diese Themen auf ihre je eigene Art sind. Auch wenn manche Stücke und Inszenierungen also durchaus etwas Bedrückendes haben, das Gesamtbild ist eher bunt, laut und schnelllebig.

Endspurt

Eine weitere Besonderheit der KinderStücke ist die Jugendjury: Sie besteht aus acht jungen Theaterbesucher:innen im Alter von 12 bis 17 Jahren. Unter Anleitung und Begleitung der beiden Theaterpädagoginnen Ludmilla Ebert und Katja Fischer haben die Jugendlichen die Stücke gelesen, besuchen die Inszenierungen und diskutieren ihre Eindrücke und Meinungen in den anschließenden Nachgesprächen und im eigenen Kreis. Wir sind gespannt, warum und mit welchem Preis die Jugendjury ihre:n Preisträger:in küren wird.   

Die Jurydebatte der Großen zur Vergabe des diesjährigen Mülheimer KinderStücke-Preises ist öffentlich und findet heute um 12.30 Uhr im Anschluss an die letzte Inszenierung im Theater an der Ruhr statt. Zur Jury gehören, neben dem Sprecher des Auswahlgremiums Oliver Bukowski, die Leiterin des Jungen Schauspielhaus Bochums, Martina von Boxen, und die freie Theaterkritikerin Silvia Stammen.