Ball oder Fidget Spinner?


Kritik

Dicht gedrängt sitzen die Kinder auf den hellen Holzbänken in einer Ecke des Klassenzimmers. Diejenigen, die darauf keinen Platz mehr gefunden haben, sitzen auf Stühlen dazwischen und schließen so den engen Sitzkreis. Es ist 8:45 Uhr, die zweite Stunde für die Kleinen. Doch heute murrt keiner, denn es ist eine besondere Unterrichtsstunde für die 3a der Lierberg-Schule in Mülheim: Theaterpädagogin Lisa Hetzel besucht die Klasse und bereitet mit den Schüler:innen das Theaterstück vor, das sich die Klasse nächste Woche bei den Mülheimer Theatertagen  anschauen wird – „Wie man die Zeit vertreibt“ von Simon Windisch und Ensemble.

Gespannt sehen die Kinder Hetzel an, als sie den Stücktitel erklärt – was bedeutet das: sich die Zeit vertreiben? Wann muss man das denn überhaupt? „Wenn mein Freund gleich kommt und ich noch warten muss“, sagt ein Junge. Ein anderer fügt hinzu: „Wenn man etwas bestellt hat und es ganz lange dauert, bis es da ist.“ Und ein Mädchen erzählt: „Wenn man ein Geschenk bekommt, aber es noch nicht aufmachen darf!“ So ist es auch in „Wie man die Zeit vertreibt“: Die achtjährige Claudia muss an ihrem Geburtstag noch eine Viertelstunde im Flur warten, während ihre Eltern und ihre Oma in der Küche alles vorbereiten.

Assoziationen zum Einstieg

Ein solcher Einstieg sei laut Hetzel typisch für ihre Theaterpädagogik-Workshops: Zunächst werden Assoziationen gesammelt, „die aus dem eigenen Erfahrungsschatz der Kinder schöpfen“, aber danach gehe es ganz unterschiedlich weiter. Manchmal spiele sie thematische Spiele mit den Kindern oder mache andere Übungen, je nachdem, was gerade zu dem Stück passt. In der 3a holt sie einen Tennisball hervor und fragt: „Was kann man alles mit diesem Ball machen?“ Der Ball wird herumgereicht. Die Schüler:innen werfen ihn in die Luft und fangen ihn wieder auf, dribbeln, einer jongliert, doch schnell sind die Möglichkeiten erschöpft und die Arten zu spielen wiederholen sich. Als der Ball wieder bei Hetzel ist, fragt sie: „Und was ist, wenn ich das hier mache?“ Sie hält sich den Ball ans Ohr und bewegt stumm den Mund. „Ein Telefon, ein Telefon!“, rufen die Schüler:innen. Erneut wandert der Ball herum und wird zu ganz unterschiedlichen Gegenständen: einem Fotoapparat, einer Spielekonsole, einem Hund, einem Fidget Spinner, einem Fernrohr.

Hetzel plane die Workshops auf Grundlage der Stücke, um die Kinder „thematisch, spielpraktisch und ästhetisch“ auf den Theaterbesuch vorzubereiten. Es gehe darum, dass die Schüler:innen ästhetische Mittel kennenlernen, wie beispielsweise die Gegenstandsmetamorphose – dass sich ein Ball eben auch in etwas anderes verwandeln kann, oder dass ein Schauspieler im Theater auch mehrere Figuren darstellen kann. Außerdem sähen viele Schüler:innen das Theaterstück nach einem Workshop mit anderen Augen: „Weil sie sich schon mal in das Thema hineingefühlt haben.“

Wie lange dauert eine Minute?

So versuche Hetzel auch immer wieder, dass die Schüler:innen in ihren Workshops „Erfahrungen machen können, die mit dem Thema des jeweiligen Stücks zu tun haben“. Im Fall der 3a ist es das individuelle Zeitempfinden. Nachdem die Kinder sich wieder auf ihre Plätze gesetzt haben, macht Hetzel eine Übung mit ihnen, bei der sie aufstehen sollen, wenn sie glauben, dass eine Minute vorbei ist. Die ersten Kinder stehen nach ungefähr 30 Sekunden auf, danach folgen kleckerweise die anderen. Hier lässt sich gut erkennen: Zeit vergeht unterschiedlich schnell für verschiedene Personen. Das ist wichtig zum Verständnis des Stückes: Die Viertelstunde, die Claudia warten muss, bis sie in die Küche darf, zieht sich immerhin über eine ganze Stunde. Zwischendurch hat sie sogar das Gefühl, dass die Zeit rückwärts läuft. Bei Langeweile dauern die Minuten eben länger. Das kennen auch die Schüler*innen der Lierberg-Schule allzu gut.

Theater spielen und sich selbst erfahren

Auch dass die Kinder selbst kreativ werden und etwas spielen können, ist Hetzel wichtig. So kriegen die Schüler:innen die Aufgabe, in Vierergruppen die Anfangsszene des Stücks nachzuspielen: Vier Claudias stehen auf und wollen in die Küche gehen, aber die Tür ist verschlossen. Anschließend müssen sie sich die Zeit vertreiben. Sie spielen Karten oder malen, spielen mit ihrer Konsole oder lesen Bücher.

Hetzel sagt, dass Theater spielen für Kinder eine wichtige Erfahrung sein kann: „Theater bildet Realitäten ab, die erst mal für den Alltag ohne Konsequenz bleiben.“ So könnten die Schüler:innen unterschiedliche Rollen ausprobieren und sich als etwas anderes erfahren. „Ich stelle einen bösen Tiger dar, aber ich bin dann nicht böse, sondern ich probiere das nur aus“, erklärt sie.

Ihrer Meinung nach sind die Mülheimer Theatertage eine einzigartige Gelegenheit, mit dem Theater vertraut zu werden. Für viele Kinder sei dies neu, da sie privat nicht ins Theater gehen und wenn, oft nur klassische Märchen oder Puppentheater kennenlernen. „Ich finde es toll, dass sie hier Theatertexte auf der Bühne sehen können, an die sie sonst gar nicht herankämen, weil die  Inszenierungen aus ganz Deutschland kommen“, sagt Hetzel. „Dass sie im Rahmen der KinderStücke so unterschiedliche Theaterformen sehen können, dass sie diese ästhetische Erfahrung machen und mit den Mitteln des Theaters selbst arbeiten können, das finde ich schon etwas Besonderes.“