26. Mai 2016 •
Was sollte wohl die Stimmung beim Publikumsgespräch zu „Bilder von uns“ sein, diesem Stück über vier Männer, die sich im Erwachsenenalter mit den Missbrauchserfahrungen ihrer im katholischen Internat verbrachten Kindheit auseinandersetzen? Würden Trübsal und Betroffenheit herrschen?
Ganz im Gegenteil. Autor Thomas Melle und das Schauspielensemble – vollständig auf dem zum Bersten gefüllten Podium vertreten – sind bestens aufgelegt, machen munter Scherze und folgen aufmerksam den einhellig positiven Publikumsbeiträgen.
Bloß kein „Fake-Doku-Drama“
Zunächst steht Melle dem Moderator Michael Laages Rede und Antwort und erzählt bedächtig von Entstehung und Idee des Stücks. Er habe ein von konkreten Missbrauchsfällen ausgehendes, zum Kunstwerk verdichtetes Theaterstück schaffen wollen, das vor allem die individuelle Verarbeitung der Geschehnisse, „den Kampf um die eigene Biografie“ in den Vordergrund stelle. Auf gar keinen Fall sei ein für die Bühne konstruiertes „Fake-Doku-Drama“ in Frage gekommen, das womöglich noch die konkreten Missbrauchsakte voyeuristisch zur Schau gestellt hätte.
So wird über die unterschiedlichen Bewältigungsstrategien diskutiert, die die männlichen Figuren im Umgang mit der eigenen Biographie verfolgen. Besonders der Verdrängungsprozess der von Benjamin Grüter verkörperten Hauptfigur Jesko stiftet Gesprächsstoff. Dann spricht Laages die schicksalshafte Anlage des Stücks und seiner Figuren an, die sich im Ankämpfen gegen das erlebte Unglück unweigerlich in Richtung Katastrophe bewegten. Es sei durchaus seine Intention gewesen, so Melle, eine „zeitgenössische Tragödie“ mit explizitem Bezug zum griechischen Vorbild zu schreiben. Ob er sich mit diesem in der zeitgenössischen Dramatik ungewöhnlichen Anspruch als Einzelgänger empfinde, will Laages daraufhin wissen. Melle antwortet mit einem emphatischen: „Ja!“ Die Wortmeldungen aus dem Publikum zeigen, dass diese Rückbesinnung auf einen klassischen Ansatz, der „Bilder von uns“ auch aus der diesjährigen Stückauswahl herausstechen lässt, vom Publikum überwiegend begrüßt wird. „Vielleicht wird das ja der neue Trend“, hofft ein begeisterter Zuschauer.
Die Stimmung ist weiterhin heiter und Autor Melle bemüht sich um Optimismus: Die durch die Missbrauchsaffäre in die Brüche gegangene Ehe der Hauptfigur Jesko könne ja „eventuell noch gekittet“ werden. Doch da muss ihn Regisseurin Alice Buddeberg lachend und zur allgemeinen Erheiterung beitragend daran erinnern, dass Jesko am Ende des Stückes stirbt und die Bedingungen für eine mögliche Wiederversöhnung mithin doch durchaus erschwert erscheinen.
Impuls zum Stadtgespräch
Bei aller Heiterkeit wird das Gespräch zuweilen auch ernster. So habe es am Theater Bonn anlässlich des dort uraufgeführten Stücks deutlich mehr Publikumsgespräche als gewöhnlich gegeben. Bei den Bonnern bestehe Gesprächsbedarf – spätestens seit der 2010 aufgekommenen Diskussion um Missbrauchsfälle an einer katholisch geführten Schule. Dieser Austausch sei für die Beteiligten der Inszenierung besonders wichtig und intensiv gewesen. Wertvoll, wenn „ein Stadttheater als Impulsgeber für ein Stadtgespräch“ wirken könne, so Laages.
Das Gespräch an diesem Abend in Mülheim bleibt da unverbindlicher. Neben der inhaltlichen Diskussion dominieren Lobbekundungen aus dem Publikum. Noch vor der Zusammenkunft der Preisjury erklären einige Zuschauer das Stück zu ihrem persönlichen Favoriten. Die Entscheidung fällt heute Abend.