"Ich nehme die Figuren ernst"


Kritik

Er verfasste bereits elf Theaterstücke, einige beachtliche Romane (darunter „Sickster“) und übersetzt Isherwood & Co. leichtfüßig aus dem Englischen. Thomas Melle, Jahrgang 1975, studierte Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft und Philosophie. Jetzt freut er sich auf seinen ersten „Auftritt“ beim „Stücke“-Festival – vor allem aufgrund der illustren Reihe bisheriger Preisträger – und ganz besonders auf die berühmt-berüchtigten Publikumsgespräche. Gleichwohl glaubt Melle nicht, zu den Favoriten des 41. Mülheimer Dramatikerpreises zu gehören. Ist diese Einschätzung berechtigt? Falls ja, worin mag sie begründet sein?

Im direkten Vergleich mit den anderen Wettbewerbsstücken fällt Thomas Melles Werk zweifellos aus der Reihe. Nicht etwa, weil es in irgendeiner Weise radikal, avantgardistisch oder sonderlich strapaziös daher käme, sondern weil es schlichtweg eine klar strukturierte Geschichte mit ausformuliert-vielschichtigen Figuren präsentiert. „Ich wollte mehr als bloße Sprache“, sagt Melle. Ein eher konventionelles, lineares Erzählen, das so manchen Anhänger deutschsprachiger Gegenwartsdramatik irritieren mag, sei für die Thematik von „Bilder von uns“ absolut notwendig. Melle lehnt andere literarische und theatrale Gestaltungsmittel keinesfalls ab. Dokumentarisches, diskursives oder sprachspielerisches Theater hat auch in seinen Augen eine Daseinsberechtigung. So lobt er etwa den „Kollegen“ Ferdinand Schmalz, weist aber darauf hin, dass dieser nun einmal aus einer anderen Tradition und einem anderen Umfeld stamme.

Ein Missbrauchsskandal samt Opfer-Täter- bzw. Opfer-Opfer-Dualismus und verschiedenen Wegen der Traumabewältigung brauche dagegen, um die Empathie des Zuschauers zu wecken, eine stringente Geschichte (mit Rückblenden). In „Bilder von uns“ zum Beispiel wechseln sich intime Dialoge zwischen Jesko und seiner Frau Bettina, flapsige Gesprächsszenen zwischen den ehemaligen Klassenkameraden und übergeordnete „Erzählerkommentaren“ aus der Zukunft ab. Somit wird der Plot auf mehrere Jahre gestreckt und gewinnt an Glaubwürdigkeit.

Tiefgang versus Oberflächengekratze

Als „well-made play“ will Melle sein Stück aber nicht beschrieben wissen. Das wäre eine „Maschine, die zu sehr schnurrt“. Schließlich werde ja nicht rein dialogisch oder gar versisch gesprochen. „Ich möchte die Figuren ernst nehmen und als Menschen dastehen sehen“, erklärt der Autor. Er habe großes Interesse an psychologisch ausformulierten, vielschichtigen Charakteren. Daher lebt „Bilder von uns“ von der Darstellung komplexer (Opfer-)Perspektiven und durch die hochsensiblen bis polemischen Figurenäußerungen. Eine klare Entscheidung dagegen, den medial wie künstlerisch allzu häufig aufbereiteten Vergewaltigungs-und-Pornographie-Komplex im Gestus einer Betroffenheitskultur emotional auszuschlachten.

Die Form habe sich während der Entstehung von „Bilder von uns“ mehrfach verändert. Ursprünglich habe Melle sogar eine klassi(zisti)sche Aufteilung in fünf Akten vorgesehen, die letztlich „instinktiv“ der Abfolge von 52 Bildern/Sequenzen/Szenen gewichen sei. Ein zusätzlicher Roman über den Protagonisten Jesko sei für den Autoren durchaus denkbar. Momentan habe Melle aber mit diversen Projekten einfach zu viel zu tun. Auf die Frage, warum er gerade jetzt (das heißt in der Spielzeit 2015/16) ein Stück über eine Missbrauchsserie in einem katholischen Internat vorgelegt habe, antwortet Melle, der selbst Schüler des Bonner Aloisiuskollegs gewesen ist, indem er auf seinen persönlichen Verarbeitungsprozess hinweist: „Kunst braucht ein bisschen Abstand zu den Sachen, die sie beschreibt. Ich hätte es schlecht gefunden, direkt (aus konkretem Anlass) etwas darüber zu schreiben.“ Anders als etwa im Fall der Flüchtlingskrise oder der Causa Böhmermann fehlt „Bilder von uns“ vielleicht die direkte Anbindung an die Tagespolitik, in den Köpfen der Zuschauer dürfte das Thema jedoch sehr präsent sein.

Die Bühne immer im Kopf

Beim Schreibprozess hat Melle stets die Bühne und oft auch die optimalen Darsteller im Kopf, schließlich wolle er Regisseuren und Dramaturgen nicht bloß irgendwelche abstrakten Textkonvolute hinwerfen. Insofern unterscheidet sich das Verfassen eines Theaterstücks für ihn auch stark vom Schreiben eines Romans: Für ersteres, so Melle, beleuchtet man Szenen, schafft perspektivische Ausschnitte, Momentaufnahmen; für letzteres nimmt man dagegen etwas Weitläufigeres und geht „aufs Ganze hin“. So nehme in „Bilder von uns“ alles seine spielerische Ausgangssituation im Verschicken des adoleszenten „Nacktbildes“ auf Jeskos Handy. Gezielte schriftstellerische Vorbilder von Dauer hat Melle übrigens nicht: Zwar seien etliche anglo-amerikanische Romanciers aus dem 20. Jahrhundert gleichermaßen eine inspirierende Bereicherung wie Ludwig Wittgensteins Sprachphilosophie, stilistisch versuche er aber mittlerweile, konsequent eigene Wege zu gehen.

Mit der Regisseurin der nach Mülheim reisenden Bonner Inszenierung, Alice Buddeberg, ist Melle befreundet. Daher wurde er während der Probenphase stark eingebunden, ohne unentwegt anwesend zu sein. Bei den Lese- und Endproben habe er „mal reingeschaut“, sei aber im weiteren Verlauf mit den Strichfassungen immer auf dem Laufenden gehalten worden. Gerade weil diese Version der „Bilder von uns“ als Kammerspiel ohne szenischen Aufwand zu überzeugen versuche, könne sich Melle gut mit ihr anfreunden. Ohne allzu viel verraten zu wollen, gesteht er: „Ich finde die Inszenierung gut und stehe voll hinter ihr.“

Das Mülheimer „Stücke“-Festival hat, Melle zufolge, ein zweifellos großes Renomee. Gleichwohl bedauert er, dass es sich auf einen solch langen Zeitraum erstreckt und die Autoren mitnichten unter sich zusammen kommen (können). „Man performt so ein bisschen aneinander vorbei. Aber ich möchte gar nicht meckern.“ In diesem Sinne darf sich das Publikum auf einen tatsächlich andersartigen letzten Festivalbeitrag und auf einen ungemein aufgeschlossenen, beherzt-zielstrebigen Dramatiker freuen.