Ich sterbe am Schreibtisch


Kritik

Auf den ersten Blick sieht er nicht nach einem österreichischen Autor aus, der bereits zum zweiten Mal zu den Mülheimer Stücketagen eingeladen ist. Dunkelblaue Hose, grauer Pullover, weiß-blau gestreiftes Hemd – alles strahlt eine gewisse Büroprofessionalität aus. Nur die ebenfalls blaue Schildmütze passt nicht in dieses Bild. Die hat eher etwas von einem amerikanischen Baseballfan. Sie wirft einen Halbschatten auf das Gesicht des Mannes. Ich muss genauer hinsehen: Seine erwachsenen Gesichtszüge scheinen auf die strenge Linie des Oberlippenbarts ausgerichtet. Ein breites Lausbubengrinsen kommt jetzt auf mich zu. Bei 22 Grad schlendern wir Richtung Ruhr. Ich lasse mich von seinem gemütlichen Gang anstecken. Auf meine erste Frage folgt erstmal ein suchendes „Häh?“, dann aber kommt die Antwort am Stück – in bestem Wiener Schmäh.

Wann warst du das letzte Mal an einer Autobahnraststätte?

Ich war letzte Woche in Graz. Da sind wir auf einer Raststätte stehengeblieben, die ziemlich schön ist. Sie hat aber auch etwas Buckliges. Im Keller haben sie dort Koi-Teiche. Das sind Riesenfische in einem minikleinen Teich unter der Stiege. Ich mach dort öfters Halt und statte ihnen einen Besuch ab, weil ich mir denke: „Diese armen Viecher.“ Deren Welt beschränkt sich auf ein ein-mal-ein-Meter großes Becken, dabei sind sie selbst schon eine Armlänge groß und werden wahrscheinlich auch noch von den Kindern drangsaliert, die da Halt machen.

Die Lust am Geschichtenerzählen blitzt in seiner Antwort durch. Wir wackeln entspannt an der Ruhr entlang und er erzählt mir von der Grundidee des Stücks „dosenfleisch“. Angefangen habe alles damit, dass er sich näher mit dem Thema „Unfall“ auseinandergesetzt habe. Fahrradfahrer und andere Spaziergänger streifen uns. Der Dramatiker ist jedoch ganz bei sich. Plötzlich bleibt er stehen und wird ernst.   

Gerade in unserer Zeit der Selbstoptimierung wollte ich Figuren finden, die genau das Gegenteil suchen. Die sich danach sehnen, dass etwas aus der Bahn gerät. Das war der Ausgangspunkt und dann hat sich das mit der Raststation ganz gut gefügt.

Er lacht ein schelmisches Lachen. Dann gehen wir in eine Eisdiele und bestellen zwei Kaffee to go.

Also ist der Unfall ein Gegenbild für unsere Zeit der Selbstoptimierung?

Ich war in Amerika, als ich angefangen habe, mich mit dem Unfall zu beschäftigen und bin dort zufällig an den Ort gekommen, an dem James Dean verunfallt ist. Da war auch so eine Familie, typische Kalifornier: braungebrannt, super durchtrainiert, die Kinder alle in Funktionskleidung – und trotzdem wurden sie von diesem Unfallort magisch angezogen. Ich denke daran sieht man, dass in den Leben, die zu glatt werden, irgendetwas verloren geht. Irgendetwas spart man immer aus. Die Leute, die an dieser Tankstelle aufeinandertreffen, suchen nach diesem Mehr. Es ist der Wunsch danach, die Dinge einen anderen Lauf nehmen zu lassen, oder, wie es im Stück heißt, „die Materie zum Tanzen zu bringen“.

Noch bevor ich an meine Brieftasche komme, zückt Ferdinand Schmalz einen Fünfeuroschein und zahlt. Ich sage ihm, dass wir später auf jeden Fall noch einen zweiten nehmen werden, damit ich mich revanchieren kann. Da lächelt er gutmütig.

Du hast deinem Stück ein Zitat der Choreografin Isadora Duncan vorangestellt. Was hat „dosenfleisch“ mit Tanzen zu tun?

Der Tanz ist etwas extrem „Unfunktionales“. Er ist, glaube ich, die ineffizienteste Art der Bewegung, weil außer sich selbst dient der Tanz ja zu nichts. Die allerersten Leute, die sich tanzend bewegten, wurden wahrscheinlich für Verrückte gehalten. Und trotzdem liegt eine wahnsinnige Schönheit darin, so ein Quäntchen Mehr. Was das bringt, weiß man nicht, aber es ist wichtig, dass Menschen tanzen, weil sich dieses Quäntchen sonst nicht fassen lässt.

Hat der Versuch, so etwas zu fassen, nicht inzwischen auch in unsere Sprache Einzug gehalten, durch so ein Wort wie „Lebensqualität“ zum Beispiel?

So etwas ist ganz, ganz schrecklich. Da wird versucht, für Dinge, die sich nicht in Kastln zwängen lassen, eine Form zu finden. Ganz schlimm ist es ja auch bei Leuten, die die mit dem Partner verbrachte Beziehungszeit als „quality time“ bezeichnen. Da gruselt es mir richtig, wenn das schon ein mitberechneter Teil des Lebens wird.

Inzwischen sitzen wir auf einer Bank mit Blick auf die Ruhr. Die Sonne scheint erbarmungslos und während es mir immer wärmer wird, scheint sich Ferdinand Schmalz unter seinem Pullover immer noch wohl zu fühlen. Lässig zurückgelehnt, die Beine übereinandergeschlagen, huscht sein Blick über die Menschen, die an uns vorbeigehen. Er ist in seinem Element.

Die stark rhythmisierte, kunstvolle Sprache ist ein charakteristisches Merkmal deines Stücks. Es wirkt auf mich oft so, als würden die Figuren gar nicht eigenständig sprechen. Wie genau funktioniert die Sprache in „dosenfleisch“?

Ich hatte das Gefühl, dass so wie der Straßenverkehr an solchen Orten in die eine oder andere Richtung ausgerichtet ist auch die Figuren reden, also ganz gerade heraus. Das war auch das Konzept: Sie sollen sich nicht nur in seltenen Punkten treffen und miteinander reden, sondern sehr schnell auch wieder voneinander abdriften und aneinander vorbeifahren. Es hat also mit der ganzen Thematik des Stücks zu tun. Wenn es keinen wirklichen, festen Ort gibt, gibt es auch nicht die Möglichkeit, ein Ereignis zu schaffen, in dem man sich wirklich trifft. Trotzdem finden die Figuren einander stets auf eigenartige Weise wieder.

Wenn du eine der Figuren in deinem Stück wärst, welche wäre das?

Jetzt verschränkt er die Arme und auf seiner Stirn deutet sich eine Falte an.

Da liegen mir alle Positionen sehr nahe. Natürlich, den Wunsch des Versicherungsagenten Rolf, einfach mal auszubrechen, kenn‘ ich auch. Zum Beispiel, wenn man wochenlang am Schreibtisch gesessen ist und denkt, jetzt müsse man mal wieder raus.

Apropos Schreibtisch. Wie funktioniert dein Schreibprozess?

Ganz unterschiedlich. Am Anfang bin ich meistens in der Bibliothek in Wien, in der Germanistikbibliothek. Da habe ich meinen Platz direkt vorn in der ersten Reihe, weil man da nicht so viel von dem mitkriegt, was drum herum passiert und freien Blick aufs Brechtregal hat.

Der nächste Satz ist von glucksendem Lachen begleitet.  

Das spornt dann auch noch mal an, wenn man sieht, wie viele Stellagen der ausfüllt. In der zweiten Phase geht’s ins Kaffeehaus. Da kann man auch schon ein bisschen mitmurmeln. In der Schlussphase bin ich zuhause, lese Sätze vor mich hin und schreie den Text auch schon mal, um zu schauen, was man alles mit ihm machen kann.  

Es wird wärmer. Wir sprechen darüber, was einen guten Dramatiker ausmacht  („ein eigenwilliger Sprachgebrauch“), und über die Werke, die für die Arbeit am Stück wichtig waren (u.a. Marc Augé, Jacques Derrida, Gilles Deleuze ). Auf alles hat er nach einer kurzen Denkpause eine pointierte Antwort parat, die er sympathisch und gemächlich vorbringt. Er ruht in sich. Verunsichern zwecklos – oder vielleicht doch nicht?

Wenn dein Stück ein Lied oder ein Werk der klassischen Musik wäre, welches wäre das?

Das ist wieder so eine Frage.

Jetzt setzt er die Mütze ab und fährt sich durch die dichten Haare.  

Was gibt’s denn da für ein schönes, verunfallendes Lied?

Dann grinst er sein Lausbubengrinsen.  

Ein, zweimal hab‘ ich, um mich so hineinzusteigern, Beethovens Neunte gehört. Das ist jetzt sehr klischeehaft.

Nachdenklich streicht er sich über die roten Wangen.  

Vielleicht auch noch „Bang Bang You Shot Me Down“ von Nancy Sinatra.

Der Song erinnert mich an den Film „Pulp Fiction“. Genauso wie im Film kommen in „dosenfleisch“ ja mehrere Menschen auf unschöne Art ums Leben. Wenn du es dir aussuchen könntest: Wie würde Ferdinand Schmalz sterben?

Die Frage fasziniert ihn. Sein Blick heftet sich an das Boot, das an uns vorbeifährt, und geht unruhig immer wieder zu mir zurück. Er denkt laut nach, wägt die klassische Vorstellung eines ruhigen Altersabends gegen einen Tod auf der Bühne ab. Schön seien diese Vorstellungen, aber nein, nichts für ihn.

Das wird’s nicht sein. Ich will vor allem bis zum Schluss arbeiten. Wahrscheinlich sterbe ich am Schreibtisch.

Er lacht laut auf.  

„Über dem letzten Stück zusammengebrochen.“