Den Anfang erkennen


Autor*innen

Dies ist die deutsche Version des Interviews. Die englische Version finden Sie hier


Sivan Ben Yishai ist 2022 zum zweiten Mal für den Mülheimer Dramatikpreis nominiert. Mit uns hat die Autorin gesprochen über das Zuhören, ihren Schreibprozess, über dominante Kulturen und die Wichtigkeit multikultureller Perspektiven für die sich nur langsam vorwärtsbewegende, deutschsprachige Welt der Theaterliteratur.

Wer Ihre Webseite aufruft, wird mit den Worten „You can start talking, I’m listening” begrüßt. Wo hören Sie zu?

Immer wenn ich schreibe, höre ich zu.

Gibt es etwas, oder jemanden, dem Sie besonders gern zuhören?

In „Die Unendliche Geschichte“ von Michael Ende sagt die Kindliche Kaiserin, dass alle Kreaturen in Phántasien komplett gleichgestellt sind. Sie weigert sich, Wesen oder Existenzformen Adjektive wie „gut” oder „schlecht” zuzuschreiben. Das ist eine ziemlich gute Art, über die Welt und unsere Umgebung zu denken.

Gibt es etwas, das Sie nicht mehr hören können?

Das ist im Prinzip, was ich mache, wenn ich schreibe: Ich spreche über die Dinge, die ich nicht mehr hören kann. Und es gibt viele Dinge, die ich nicht mehr hören kann, aber ich habe sie mir nicht ausgesucht und ich versuche sie auch nicht zu selektieren. Ich akzeptiere sie als Teil dieser Welt und als einen dialektischen Dancefloor.

In ihrem Stück wird mehrfach debattiert, was eine „Nationaldichterin ist” und was nicht. Was verbinden Sie mit dem Begriff „Nationaldichterin”, und warum haben Sie ihn in den Titel aufgenommen?

Ich wollte, dass selbst diejenigen, die das Stück nicht lesen oder sehen, sich fragen: Die Nationaldichterin von was? Deutschland? Von Palästina-Israel? Es ist eine Frage an die dominanten Kulturen und an den Fakt, dass wir, egal was wir tun, immer dazu verdammt sind, auf ein flaches Bild unserer Identität basierend auf unserem Hintergrund reduziert zu werden, so wie er von der dominanten Kultur wahrgenommen wird. Oft stimmt diese Wahrnehmung nicht. In „Wounds Are Forever” stimmen die meisten biografischen Details, die ich der Hauptfigur Sivan gegeben habe, nicht mit meinen überein. Warum? Weil es schwierig ist, präzise und akkurat beschrieben zu werden, wenn du nicht Teil der dominanten Gruppe bist.

Sie machen klar, dass das starre Beharren auf einem singulären Narrativ der Auslöser von Gewalt ist. Wie vereinen Sie verschiedene Narrative, erzählerisch und mit sich selbst?

Das ist die große Frage für alle Autor*innen, auch wenn andere sie vielleicht anders formulieren würden: Können wir über unsere eigene Perspektive hinausgehen? In jedem meiner Stücke ist die Antwort anders. In „Wounds Are Forever” betreten wir eine No-Go-Area. Du willst in Deutschland über den israelisch-palästinensischen Konflikt sprechen? No-Go, du hast schon verloren. Diese Diskussion hat kein Resultat. Für mich ist das der Punkt, an dem das Stück ansetzt. Ich habe mich entschieden, den immigrantischen Körper als Boxring zu verwenden. Indem ich vielen verschiedenen Perspektiven der Vergangenheit und Gegenwart erlaube, zu kollidieren und miteinander zu kommunizieren, bekomme ich Zutritt zu dieser No-Go-Area.

Was hat sich zwischen Ihrer ersten Nominierung für die Mülheimer Theatertage mit „Liebe / Eine argumentative Übung“ 2020 und ihrer jetzigen Nominierung 2022 verändert?

Schon seit ich „Your very own Double Crisis Club” geschrieben habe, fühle ich mich, als würde mir etwas Bedeutsames passieren. Volle, intensive Tage im besten Sinne, so würde ich die letzten sechs Jahre beschreiben. Das hat sich nicht verändert. Was sich verändert hat, ist, denke ich, wie meine Werke gelesen werden. Der Grund dafür ist, dass Leser*innen und Zuschauende Zeit brauchen, sich an die Sprache neuer Autor*innen zu gewöhnen, an ihre Themen, wie sie an Fragen und Konflikte herangehen, mit ihrem Körper arbeiten. Ich setze meinen intensiven Dialog mit der deutschsprachigen Welt fort. Was sich noch verändert hat, ist, dass die Strukturen selbst offener werden und prüfen, wie sie deutsche Literatur verstehen. Wer sind „deutsche“ Autor*innen? Was bedeutet das, wenn eine Person, deren Arbeit vom Englischen ins Deutsche übersetzt wird – meine Übersetzerin ist Maren Kames – für Mülheim nominiert wird? Das ist in dieser schwerfälligen Welt der Theaterliteratur ein großes Statement. Ich hoffe, es werden noch mehr kommen wie ich. Mehr übersetzte Werke, mehr Stimmen von Immigrierten und Geflüchteten und von Menschen, die in ihrer Muttersprache oder, wie ich, in ihrer Zweitsprache schreiben und damit das Herrschaftsgefüge in Frage stellen.

Wie sieht Ihr Schreibprozess aus?

Ich sehe meine Zeit am Schreibtisch als riesiges Privileg, also versuche ich jeden Tag diesen Termin mit mir selbst einzuhalten, ob nun viel zu tun ist oder nicht. Ich fange jeden Morgen um sieben an und bin um vier oder fünf Uhr nachmittags fertig. Ich habe mir eine Routine etabliert, die mir Raum und einen klareren Kopf schenkt. Häufig fragen mich Journalist*innen, woher ich weiß, dass ein Text fertig ist. Für mich ist die wichtigere Frage: Wo fängt er wirklich an? Es braucht zwei, drei, manchmal vier Monate kontinuierlichen Schreibens, bis ich diesen Anfang erkenne. Ich erkenne ihn daran, dass ich merke, dieser Raum gehört mir, diese Entscheidungen, die ich getroffen habe. Wenn ich sagen kann: Ja, das ist meins. Ich schreibe viele wunderschöne Dinge auf dem Weg dahin, aber sie gehören nicht unbedingt zu mir, sie sind nicht relevant, sie sind nicht fürs Jetzt.

Sie schreiben nicht nur, sondern performen Ihre Texte auch. Wo treffen sich die Autorin, die Regisseurin und die Performerin? Wo haben sie vielleicht auch Differenzen?

Ich bin heute mit der Regisseurin in mir nicht mehr so im Dialog. Ich bin nicht erpicht darauf, Regie zu führen und interessiere mich nicht mehr dafür. Ich bin am Performen und am Schreiben interessiert. Für mich sind sie auf eine Art ein und dasselbe. Während ich schreibe, spreche ich immer. Die Worte sind immer in meinem Mund. Wenn ich schreibe, bin ich in diesem sehr präsenten Zwischenzustand einer Perfomerin, die auf der einen Seite auf bereits existierendes Material reagiert und auf der anderen Seite wild improvisiert.

Was ist ein Thema oder eine Idee, welche Sie in einem zukünftigen Text gerne umsetzen würden?

Ich arbeite nie mit Themen oder Ideen, denn sobald ich ein Thema benenne, ist es schon tot. Beim Schreiben geht es erst wirklich los, wenn du vergessen hast, was dein Thema ist und du betrachtest, was tatsächlich passiert. Es ist egal, was du betrachtest, du wirst immer dieselben Spannungen, Fragen, sozialen Konflikte und Machtdynamiken entdecken. Wir müssen nur zuhören, genau hinschauen und es dann in Worte fassen. Wenn man etwas in Worte fasst, verwandelt es sich wieder und wieder und entwickelt ein Eigenleben.

Im Stück wird die Hauptfigur von einem Schäferhund begleitet. Wenn Sie sich ein Tier als Gefährt*in für Ihr Leben aussuchen müssten, welches wäre das?

Deine Frage impliziert, dass das Tier eine Art Spiegel meiner selbst wäre, oder? Für mich ist alles in dieser Welt eine Gefährt*innenschaft. Ich kümmere mich um Freunde, Familie, mein Publikum und die Gesellschaft, in der ich lebe. Jeden Tag ist also etwas anderes der Spiegel meiner selbst.


Sivan Ben Yishai, geboren 1978, wuchs in Jerusalem auf und studierte Theaterregie und szenisches Schreiben in Tel Aviv. Sie arbeitete zunächst als Regisseurin. Seit 2012 lebt und arbeitet sie in Berlin und widmet sich seit etwa sechs Jahren gänzlich dem Schreiben. 2017 wurde ihr erstes Stück „Your very own Double Crisis Club“ bei den Autorentheatertagen 2017 am Deutschen Theater Berlin uraufgeführt. „Wounds Are Forever (Selbstportrait als Nationaldichterin)” entstand als Auftragswerk für das Nationaltheater Mannheim, wo sie in der Spielzeit 2019/20 als Hausautorin tätig war. Ihr Stück „Like Lovers Do (Memoiren der Medusa)“ in der Inszenierung von Pınar Karabulut an den Münchner Kammerspielen ist zum Berliner Theatertreffen 2022 eingeladen.