Pro(u)st!


Kritik

Der Buchladen „Proust“ ist gut gelegen. Direkt am Essener Hauptbahnhof befindet er sich in einer kleinen Nebenstraße bei der riesigen Fußgängerzone. „Proust“ liest man schon von Weitem, eine gemütliche Holzbank steht vor dem Laden. Draußen zu sitzen ist bei diesen Temperaturen jedoch keine Option. Schnell rein in den klimatisierten, rechteckigen Raum. „Tja, aber das ist nur im ersten Moment erfrischend, das wird auch sehr schnell heiß hier drin“, begrüßt Beate Scherzer. Hauptsache kühl und das ist es, in diesem sehr schmalen, sehr schicken Buchladen. Auf der kompletten linken Wandseite verläuft das Bücherregal, das auch auf der Visitenkarte abgedruckt ist. „Das war mir wichtig. Das gehört einfach zum Laden.“ Es sind parallel verlaufende Holzstreben, die Platz lassen, um Bücher einzuklemmen, eine einfache, doch effektive und stylische Methode. Rechts hinten im Raum ist eine kleine Kaffeebar, links ein riesiger Holztisch mit einer Eckbank und Lederstühlen. Man kann hier etwas trinken und in den neuesten Veröffentlichungen blättern. Der Rest des Ladens besteht aus, wie sollte es anders sein, Büchern. In hohen, schmalen Holzregalen sind sie thematisch sortiert, wie sich das für einen guten Buchhandel gehört. „Theorie“, „Vorsprechen“ und „Theaterpädagogik“ sind nur einige Rubriken. Und es gibt immer die Möglichkeit sich auf bequemen, roten Polstermöbeln niederzulassen.

Buch und Theater

Wie kam Beate Scherzer denn dazu bei einem Theaterfestival in Mülheim einen Bücherstand zu organisieren? „Das ist wirklich schon ganz lang her, dass das zustande kam“, holt sie aus. 1991 sollte im Grillo-Theater in Essen ein Buchhandel eröffnet werden, um das Haus den ganzen Tag öffnen zu können. Nicht nur die eine Stunde vor Vorstellungsbeginn, wie es sonst für Theater üblich ist. Beate Scherzer bekam davon Wind und wollte diesen Buchhandel betreiben, schließlich ist sie ausgebildete Buchhändlerin und liebt Theater. „Ich habe selber zehn Jahre Theater gespielt.“  Die perfekte Mischung also, deswegen wurde sie am Grillo angestellt. „Und irgendwann stand jemand aus Mülheim vor mir und fragte, ob ich denn nicht einen Stand beim ‚Stücke‘-Festival machen könne.“ Beate Scherzer erwiderte, ob es denn nicht sinnvoller und vor allem fairer sei, jemanden aus der eigenen Stadt zu fragen? Ja schon, aber man bräuchte den Stand schon in zwei Tagen. „Also habe ich ‚Ja‘ gesagt. Das ist nun schon 26 Jahre her.“ In diesem Vierteljahrhundert ist viel passiert.

Vom Grillo-Theater ging es 2005 in den größeren Laden in der Innenstadt Essens, der den Namen „Proust“ bekam. Warum genau diesen? „Naja, ein Autor sollte es sein. ‚Kafka & Co.‘ war schon vergeben – in Detmold heißt eine Bücherei so – und ‚Proust‘ ist schön kurz und passt auch zu unserem Konzept, dass man sich hier gemütlich mit etwas zu trinken hinsetzen und Bücher querlesen kann.“ Sie zeigt auf eine Postkarte, auf der ein Lesender in einem Sessel vor einem riesigen Bücherregal sitzt, ein Glas Wein in den Händen, und eine Sprechblase aus seinem Mund lässt nur „Proust!“ verlauten. Mit ein bisschen Phantasie, ohne <u> und abgeänderter Aussprache würde es wie „Prost“ klingen, passt ja perfekt.

Empfehlungen

Leider ist in ihrem Buchladen nicht mehr so viel los, wie das früher noch der Fall gewesen ist. Der Aufschwung des Internethandels ist nicht spurlos vorübergegangen. „Das finde ich immer sehr schade, wenn jemand in den Laden kommt, sich beraten lässt, ein Foto vom Buch schießt und es dann online bestellt.“ So würden Existenzen zerstört. Doch Beate Scherzer kann sich auf ihre Stammkunden verlassen. „Die kommen gerne und oft und wissen, dass sie auf meine Expertise und Empfehlungen zählen können.“

Der Stand beim „Stücke“-Festival sei allerdings nicht sehr rentabel. „Früher habe ich beispielsweise am Abend zwanzig Ausgaben der Theater heute verkauft, heute höchstens fünf.“ Warum macht sie es dann überhaupt noch? „Weil es mir unglaublich Spaß macht und ich so alle Inszenierungen sehen kann“, denn Theater ist und bleibt ihr großes Hobby. Sie ist mit Musiktheater aufgewachsen, „doch 100 Mozartkonzerte muss ich nun wirklich nicht sehen“. Wann immer es ihr möglich ist, fährt sie abends in die umliegenden Theaterhäuser – bei der Schicht, die um 17 Uhr endet, sei das ja kein Problem – und sieht sich jegliche Inszenierungen an. Ihr aktueller Favorit: „Das Licht im Kasten“ von Elfriede Jelinek am Theater Düsseldorf in der Inszenierung von Jan Philipp Gloger. „Einfach grandios. Das müssen Sie sich mal ansehen.“  Dieses Jahr in Mülheim freute sie sich vor allem auf „der thermale widerstand“ von Ferdinand Schmalz. Dabei sind dramatische Texte keinesfalls ihre Lieblingslektüre: „Ich liebe Romane und Erzählungen. Eben alles, wo mir eine tolle Geschichte erzählt wird.“ Dramatik sehe sie lieber auf der Bühne, zum Leben erweckt, eben im Theater. Deswegen auch immer die Freude über den Stand beim „Stücke“-Festival.

Erinnerungsstück

Ob es denn ein Jahr gebe, an das sie sich noch gut erinnern könne? „Und wie!“ Als sie nämlich zum ersten Mal eine Marthaler-Inszenierung gesehen habe. „Das werde ich nie vergessen! Unglaublich war das.“ Sie schlägt im Festivalkatalog nach, um zu wissen, wann genau das war. „Hier, 1996, Christoph Marthaler mit ‚Stunde Null oder Die Kunst des Servierens‘ … schon lange her.“ Damals habe es eine angeregte Jurydebatte über die große Frage der Trennung und Vereinbarkeit von Text und Inszenierung gegeben, erinnert sie sich. Auch weil Marthaler Autor und Regisseur zugleich gewesen ist.

Ach, diese Debatten. Der Internethandel und die Erkenntnis, wie wertvoll denn eine gut ausgebildete, wissbegierige und vor allem freundliche Buchhändlerin ist, ist noch länger Thema an diesem heißen Nachmittag. Jedenfalls kann man sich mit Beate Scherzer gut unterhalten und sich auf einen Plausch mit ihr am Bücherstand freuen. Noch vier Mal wird sie in Mülheim anzutreffen sein, und sie kann über jedes Buch auf ihrem Tisch Auskunft geben. Den Büchertisch stellt sie natürlich thematisch zusammen. „Für ‚Empire‘ von Milo Rau wird einiges zum Thema Flüchtlinge dabei sein.“ Sie packt auch viele Theatertheorien ein, „die sind immer sehr interessant für die Teilnehmer der Übersetzerwerkstatt, die bekommen sie im Ausland ja nicht“. Insgesamt sechs große Bücherkisten bringt sie zu Beginn des Festivals mit dem Auto nach Mülheim. Die bleiben dann die ganze Zeit in der Stadthalle. Beate Scherzer selbst radelt abends zu den Aufführungsorten. „Auf dem schönen Ruhr-Radweg, dauert ja nur 40, 50 Minuten von Essen bis nach Mülheim.“