„1,5 Meter. 1,5 Grad. 2 mal 1,5 Atomkoffer“
„Geht es dir gut?“ – „Hast du Nachrichten geschaut?“ – „1,5 Meter. 1,5 Grad. 2 mal 1,5 Atomkoffer. Ich meine, was soll eigentlich noch kommen?“ Mit diesen Sätzen, die Fabian Hinrichs abendfüllend in die Berliner Volksbühne hineinruft – oder besser: mit denen er dieses riesige Theater geradezu anruft – ist das Thema des Abends adäquat umrissen. Es geht um nichts weniger als die multiplen Katastrophen und Krisen unserer Gegenwart.
Darüber, was das Theater soll – und ob es überhaupt etwas kann – angesichts dieser Katastrophen, wird zurzeit ja viel debattiert. Wie soll das denn gehen, dramatische Sinnstiftung zu Pandemie, Klimadesaster und Krieg; zu eben 1,5 Metern, 1,5 Grad und 2 mal 1,5 Atomkoffern? René Pollesch und Fabian Hinrichs geben darauf in ihrer gemeinsamen Produktion „Geht es dir gut?“ eine Antwort, die keine vermeintlichen Lösungen formuliert, sondern vielmehr darin besteht, die eigene Verzweiflung derart klar und ehrlich offenzulegen, dass diese Verzweiflung gar nicht anders kann, als unter mutmaßlich sämtliche Publikumshäute zu fahren. Was wiederum nur deshalb gelingt, weil sowohl der Text als auch die Inszenierung das Kunststück schaffen, die vergleichsweise klein wirkende Individuumstrostlosigkeit luzide mit der großen gesellschaftlichen Depression in eins zu führen und umgekehrt. „Was soll denn eigentlich noch kommen?“, fragt Hinrichs rhetorisch, um zu dem Schluss zu gelangen: „Es kann doch nur noch ein Meteorit kommen. Außerirdische. Es kann doch höchstens noch Gott persönlich zu uns sprechen. Oder du kommst zu mir zurück.“
Der erste Teil des Anderthalbstünders ist eine einzige gigantische Litanei der Erschöpfung. „Ich bin müdeeee!“, spricht Hinrichs immer wieder ins tatsächlich schier unendlich wirkende Volksbühnen-Halbrund hinein, und er tut es in diesem ihm eigenen Sound, der mit jeder Silbe zielsicher ins Mark trifft und gleichzeitig sämtliche Fluchtmöglichkeiten ins Pathos verstellt.
Als Abend der schonungslosen Selbstbefragung reflektiert „Geht es dir gut?“ aber natürlich auch die Tatsache, wie problematisch dieser Gestus der Betroffenheit aus einer vergleichsweise sicheren Perspektive heraus ist, stets mit – ebenso wie die Sehnsüchte nach (einfachen) Auswegen, nach Exit-Strategien und nach Eskapismus. Dabei spielt die Theaterperspektive immer wieder in die gesellschaftliche Gesamtsituation hinein und umgekehrt.
Punktgenau lässt die Bühnenbildnerin Katrin Brack eine silberne Rakete auf der Bühne landen, sogar ein Taxi fährt ein. Aber es hilft nichts: Die Choristinnen und Choristen der Afrikan Voices und der Bulgarian Voices Berlin, die Hinrichs bis dato gutwillig sekundiert hatten in seiner Erschöpfungslitanei, lassen ihn einfach stehen, draußen vor der (Raketen-)Tür und fliegen ohne ihn ab. Aus dem Taxi klettern unterdessen junge Breakdancer der Flying Steps Academy Berlin – und setzen der kollektiven Hinrichs-Pollesch-Gesellschafts-Erschöpfung einen hochenergischen Tanzauftritt entgegen.
Christine Wahl