Die Selbstoptimierten
Vor 20 Jahren ließen sich junge Leute über Wochen in einen Wohncontainer sperren und rund um die Uhr von Fernsehkameras beobachten. Sie taten das freiwillig, fürs Ego, für die Hoffnung auf eine Promi-Karriere, für ein Preisgeld. Ein Millionenpublikum beglotzte sie und durfte einen nach dem andern rauswählen. Das war Big Brother, Staffel 1. Die Reality-Soap bediente niedere Instinkte, brach mit TV-Tabus, indem sie intimes, oft auch eintöniges Privatleben schamlos zur Schau stellte. Und war genau deshalb eine Sensation.
Der Basler Autor und Regisseur Boris Nikitin (41) hat am Staatstheater Nürnberg eine Art Reenactment der legendären Show angezettelt. „Erste Staffel. 20 Jahre Großer Bruder“ arbeitet auf der Textebene mit Versatzstücken aus dem RTL-Studio, zitiert unverhohlen George Orwell, lässt sich in guter Dokufiction-Tradition Freiheiten in der Frage, wo das Dokumentarische endet und die Fiktion beginnt.
Das Theaterpublikum sitzt also vor Schauspielern, die Laiendarsteller spielen, die sich selbst darstellen, um ihrem Publikum zu gefallen. Der eine chillt im Liegestuhl, ein anderer verkriecht sich ins Bett, einer geht aufs Klo, die nächste quasselt ununterbrochen. Zwischendrin versammelt sich das sechsköpfige Ensemble im Wohnraum, plaudert wie WG-Kumpels, fühlt einander auf den Zahn und wird dabei ständig abgefilmt. Voyeure und Überwacher sind dabei wir, die große Community, die Zuschauer des Lebens der anderen.
Klingt vertrackt? Ist aber nah dran an dem, was auf Social Media tagtäglich vor sich geht, wo sich jeder, vom Schüler bis zur Influencerin, an der Inszenierung von Images versucht, mehr oder minder pseudo-authentisch, mehr oder minder professionell. Neudeutsch nennt sich das Phänomen „Aufmerksamkeitsökonomie“. Es hat die Anfänge von Big Brother längst überflügelt.
Entsprechend geht Boris Nikitin mit der fernseh- und sozialhistorischen Zäsur um. Das Ensemble ahmt die Real-Life-Illusion des RTL-Vorbilds mitnichten bloß platt nach. Dazu wirkt allein schon der Bühnencontainer von Ausstatter David Hohmann viel zu künstlich. Und viel zu entlarvend. Tatsächlich spielt Nikitin die Konsequenzen durch, die wir uns mit dem Triumph des Realityformats über den Realitätssinn eingehandelt haben: die Selbstoptimierung, den daraus resultierenden existenziellen Wettbewerb, die neue Relevanz des Banalen, das populistische Kalkül.
Nikitin will durchaus den Beweis führen, dass mit der Erfindung von Realityfernsehen gleichsam auch die Ursuppe rechtspopulistischer Querdenkerei angerührt wurde. Ganz von der Hand zu weisen ist das nicht. Zumindest ereifert sich ein Nürnberger WG-Genosse ziemlich gehässig und ziemlich überzeugend über fortschreitende Entmündigung in Zeiten der Maskendebatte. Eklats vor laufender Kamera: Vor 20 Jahren ist das auch passiert.
Bei Nikitin verwandelt sich die Container-Partyzone so zielsicher wie einst im Fernsehen in eine Zwangsgemeinschaft. Lagerkoller nicht ausgeschlossen.
Stephan Reuter