Gesellschaft als Zumutung
Worum geht es im Theater? Um das Verhältnis des Individuums zu der Gesellschaft, die es umgibt. In „Die Kunst der Wunde“ wird dieses dramatische Generalthema in verschiedenen Variationen und Situationen durchdekliniert. Die Probleme fangen mit der Erziehung an („Kevin, hast du schon Danke gesagt?“) und gehen mit der Lohnarbeit weiter: „Ja und ja und nein und nein und ASAP und sowieso und Klar, Chefin, und Ich mache mich gleich dran und Habe Herrn Lukacz nicht erreicht …“ Wer krank ist, muss ins Krankenhaus und kann danach, wenn alles gut gegangen ist, sagen: „Ich nehme endlich wieder feste Nahrung zu mir. Ich bin endlich wieder nicht versehrt. Ich bin endlich wieder Opfer meiner selbst.“
Die 1991 in Zürich geborene Katja Brunner hat 2013 für „von den beinen zu kurz“ den Mülheimer Dramatikpreis gewonnen. Mit „Die Kunst der Wunde“ ist die Schweizer Autorin zehn Jahre später wieder für die Mülheimer Theatertage nominiert. Der Titel ist ein Wortspiel, das sich auf die „Gunst der Stunde“ bezieht. Tatsächlich hat das Stück, das keine leichte Kost ist, auch etwas Spielerisches an sich. Beim Spielen mit den Worten kommt die Autorin vom Hölzchen aufs Stöckchen, das Gerüst des vielstimmigen Textes bilden kunstvoll ausformulierte Listen.
In der längsten und wichtigsten Liste wird aufgezählt, „woraus der Staat gemacht ist“. Da steht dann zum Beispiel: „Aus Allergikern, Klerikern und unehelichen Kindern, aus Waisen, Weisen und den Waisen der Weisen, und der Staat ist gemacht aus Büronadeln, Talaren und Perücken, aus Schnauzern, Blut- und Wissensdurst, Paragrafen, Pressefreiheit und Plena …“ In derselben Liste werden später dann aber auch die neun Toten des rechtsextremen Anschlags von Hanau 2020 namentlich angeführt. Besonders perfide sind die „Ratschläge für fleißige Hausfrauen“ geraten; diese Liste enthält nämlich ausschließlich Hinweise zum Umgang mit innerfamiliärer Gewalt. Ganz wichtig: „Das Stillen der Blutung steht an erster Stelle.“ Und: „Arztbesuche sind zu vermeiden, sie führen in der Regel zu mehr Gewalteinwirkung.“
Angesiedelt ist das Stück eigentlich auf einem atmenden (!) Felsen, und die „Sprachsprechinstanzen“, wie Brunner die Figuren ihres Dramas bezeichnet, ordnet sie der „Sphäre des Krankenhauses“ zu. Aber so konkret wird das in der Leipziger Uraufführungsinszenierung (Regie: Katrin Plötner) nicht umgesetzt. Die Bühne erinnert gleichermaßen an eine Hüpfburg und an eine Gummizelle, die fünf Schauspielerinnen und Schauspieler werfen sich lustvoll und mutig in das herausfordernde Stück.
Im Kern handelt „Die Kunst der Wunde“ davon, wie der Blick der anderen unser Leben bestimmt: „Schau wie sie gucken, guck wie sie schauen.“ Erziehung und Beziehung, Krankheit und Arbeit, Staat und Familie: Das Leben in der Gesellschaft ist eine einzige Zumutung. So wie Katja Brunners wortgewaltiger Text, der den Finger in unsere Wunden legt.
Wolfgang Kralicek