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Sprachmusik auf der Bühne


Diskurs

Es ist ein langer Abend im Theater an der Ruhr. Draußen wird noch Eis verkauft (Himbeer-Minze, vegan), während drinnen die 44. Mülheimer Theatertage mit Enis Macis Mitwisser in die letzte Runde gehen. Einmal noch fällt der Vorhang, einmal noch Applaus. 

Der Theatersaal ist von der letzten Aufführung noch nicht ganz abgekühlt, als sich das Publikum erneut einfindet. Auf der Bühne dieses Mal keine Schauspieler, sondern die Jury, die nun – und das ist einzigartig in der deutschsprachigen Theaterlandschaft – vor Publikum live darüber entscheidet, welches der sieben nominierten Stücke den Mülheimer Dramatikpreis 2019 verdient hat. Die Gesichter der drei Jurorinnen und zwei Juroren: skeptisch bis angespannt. Sven Ricklefs, der die Debatte moderiert, sieht deutlich entspannter aus und wird dafür sorgen, dass die Debatte „ohne Handgreiflichkeiten“ über die Bühne geht (beziehungsweise auf der Bühne bleibt). 

Nach einer recht langatmigen Zusammenfassung aller sieben Stücke ermittelt die Jury in zwei Runden den Preisträger beziehungsweise die Preisträgerin. In der ersten Runde nominiert jedes Jurymitglied drei Stücke für den „Rausschmiss“. Gleich zwei Stücke werden einstimmig aus dem Wettbewerb gewählt: Konstantin Küsperts Der Westen und Die Abweichungen von Clemens J. Setz. Es folgt: Disko von Wolfram Höll.

Theaterkritiker Falk Schreiber wehrt sich vergeblich: Disko sei unglaublich ungemütlich, da es den Zuschauer angreife, der sich selbst als Unsympathen erkennen muss. Es handele sich um das formstärkste Stück, so Regisseurin Sandra Strunz, das aus Beat, Maß und Klang bestehe, über- und herausfordere und so Faszination ausübe. Die Begegnung mit dem Fremden auf sprachlicher Ebene  bezeichnet sie als „fast erotisches Erlebnis“. Edith Draxl, Regisseurin und Kuratorin, kritisiert jedoch, die Disko als Ausgangspunkt sei in seiner Parabelhaftigkeit „zu wenig stark, um die Gesellschaft zu porträtieren“, und für Theaterkritiker Stephan Reuter steckt inhaltlich „nicht wahnsinnig viel drin“. Somit scheidet auch Disko in der ersten Runde aus. 

„Die Fantasie geht flöten“

Der  Westen wird von Reuter zunächst noch gelobt: Die Qualitäten des Stücks seien gerade die Abwesenheit eines linearen Plots mit wiederkehrenden Protagonisten sowie die „Kunst der Verknappung“, die für einen „hohen satirischen Unterhaltungswert“ sorge. Dennoch: die Form des Stückes sei „durchaus ein Risiko“. Strunz vermisst die „Begegnung mit dem Fremden, Unvertrauten“ und habe das Stück zu affirmativ gelesen. Draxl schließt sich an und hätte sich „etwas weniger Flapsiges“, stattdessen mehr Provokantes und Brisantes gewünscht. Reuter wendet ein, dass es auch ernste Szenen gebe. Patricia Nickel-Dönicke, Chefdramaturgin im Theater Oberhausen, stellt nüchtern fest: „Die Fantasie geht mir flöten“. Möglicherweise sei das Thema zu groß angelegt, mutmaßt Draxl.

Auch Die Abweichungen wird einstimmig aus dem Rennen geschickt. Für  Schreiber handelt es sich um ein gutes Stück, es sei jedoch nicht das, was er „als Zukunft der Dramatik“ sehe – diese klassisch ausgearbeiteten, psychologischen Figuren. Nickel-Dönicke kritisiert die Oberflächlichkeit der Figuren, während Strunz die „großartige Konstruktion“ des Stücks lobt, das sie „total gerne als Roman“ gelesen hätte. 

Überforderung und Faszination

Wonderland Ave (Sibylle Berg) und atlas erhalten je eine Negativstimme, bleiben jedoch im Wettbewerb. In der zweiten Runde wird weiter über die verbliebenen vier Stücke diskutiert. Für Nickel-Dönicke ist Wonderland Ave. „reines Monologisieren“, eine Zustandsbeschreibung, in der es keinen Konflikt gebe. In der Inszenierung habe sie den Humor des Textes vermisst. Schreiber lobt die Gnadenlosigkeit, mit der der KI-Gedanke weitergeführt werde – „mit der für Sibylle Berg typischen Bösartigkeit“. Am Ende reicht es nicht für den Dramatikpreis. 

Für Frank Schreiber ist Schnee Weiss (Die Erfindung der alten Leier) von Elfriede Jelinek, das „formal unglaublich spannend“ sei, sein „zweiter Favourite“. Nach Nickel-Dönicke retardiere das Stück unheimlich, sei manchmal zäh und berühre irgendwann nicht mehr. Jelineks Selbstreferentialität könne man fast eitel nennen. Strunz hingegen liest das Stück feministischer und verweist auf seine inhaltliche Relevanz. Jelineks Gehirn renne von einem Ort zum anderen, ihre Sprache sei zutiefst theatralisch. Nickel-Dönicke kontert, der Inhalt sei nicht besonders neu. Draxl gefällt, dass die hierarchischen Strukturen nicht nur die unterschiedlichen Geschlechter betreffen, sondern auch verschiedene Altersgruppen. Reuter fasst zusammen: Jelineks Qualität sei nicht zu hinterfragen. Mit ihren Texten verbinde ihn eine „unglaubliche Hassliebe“: sie seien anstrengend zu lesen, jedoch wunderbar im Theater. Er „würde ihr viel lieber nochmal einen Nobelpreis geben“. 

Macis virtuoser Umgang mit Sprache

Bei der Debatte um atlas stellt sich schnell heraus, dass Autor Thomas Köck erneut den Preis mit nach Hause nehmen wird. Die Jury ist – bis auf Schreiber – begeistert vom Stück: Nickel-Dönicke bezeichnet es als ihren absoluten Favoriten, die einzelnen Szenen seien „große, ganze Tragödien“ und es gebe „schlaue Perspektivsprünge“. Das traurig-schöne Stück habe sie zu Tränen gerührt. Auch Reuter findet nur lobende Worte, bezeichnet den Text als „Sprachmusik“ und begeistert sich für das Spannungsfeld zwischen Zeit und Geschichte. Laut Draxl ist es das Stück über Flucht, das wie ein Gedicht geschrieben sei und ohne einen moralischen Zeigefinger auskomme. Schreiber ist kritischer: Das Stück sei in der Vergangenheit geblieben. Ihm fehle jedoch „explizit die theatrale Form“, das Stück habe nichts Performatives an sich. Nickel-Dönicke hält dagegen, dass epische Elemente zum Theater dazugehörten. Strunz attestiert dem Stück etwas „Universelles“, das Stück habe sie emotional ergriffen. 

Die Lage scheint bereits klar, doch Moderator Ricklefs greift nochmals ein, um an Enis Macis Mitwisserzu erinnern, was in der Debatte bisher überhaupt nicht vorkam. „Das ist ein ausgesprochen starkes Stück. Wir haben da auf jeden Fall eine große Bereicherung, eine neue Stimme in der Gegenwartsdramatik“, so Reuter. Scherzhaft fragt er, ob man auch zwei Preise vergeben dürfe. Anerkennung findet Reuter vor allem für Macis virtuosen Umgang mit Sprache. Das Stück mache uns alle zu Mitwissern, so Schreiber, und fragt, ob uns das Wissen darüber so viel bringe. Nickel-Dönicke beurteilt das Ökosystem der Mitwisser als stark und fragt: „Wer darf uns in einen Tsunami hineinziehen? Welche Perspektive dürfen wir einnehmen?“ Strunz bezeichnet den Begriff der Mitwisserschaft an sich als „wahnsinnig interessant“. Die Regieanweisungen seien sprachlich ihr „totales Highlight“ gewesen. 

Viel Lob also für Mitwisser und atlas. Am Ende steht die Entscheidung der Jury schnell. Thomas Köcks atlas bekommt nur eine Gegenstimme: Schreiber hätte den Preis lieber Elfriede Jelinek verliehen. A propos starke Frauen: Strunz hebt zum Schluss noch einmal den weiblichen Anteil im Wettbewerb hervor. Neben den großen Autorinnen nennt sie hier die drei bezaubernden Protagonistinnen in Köcks atlas.

Ein Doppelsieg für den Titelverteidiger Thomas Köck, der auch das Publikum überzeugte (vor Küsperts Der Westen und Macis Mitwisser). Und so haben wir Blogger:innen uns entschieden.