27. Mai 2018 •
„Die Jelinek schon wieder, heißt es immer in Mülheim“, sagt Moderator Vasco Boenisch. Ein wenig unfair sei das, und es solle ruhig nochmals betont werden: Zum 19. Mal sei Elfriede Jelinek für den Mülheimer Dramatikerpreis nominiert, viermal habe sie ihn erhalten, zuletzt 2011 für „Winterreise“. Wieder habe sie sich mit „Am Königsweg“ in ihrer Doppelrolle als Seherin und als Ohnmächtige gezeigt und sei damit erneut ausgewählt worden. Aber nicht nur das. Die Inszenierung sei auch als eine der zehn bemerkenswertesten zum Berliner Theatertreffen eingeladen worden und Benny Claessens habe dort für seine schauspielerische Leistung in „Am Königsweg“ den Alfred-Kerr-Darstellerpreis gewonnen. Darüber und über die Diskussion, die Juror und Schauspielkollege Fabian Hinrichs mit seiner Laudatio für Claessens ausgelöst hat, will dieser aber gar nicht reden, weil es dazu auch Hinrichs bräuchte (oder weil Claessens sowieso nicht mehr so viel reden möchte heute Abend).
Nachdem alle Schauspieler:innen ihren Jelinek-Lieblingssatz genannt haben und sich damit ausnahmslos zu ihrem Fan-Sein bekannt haben („Alles für Elfi!“, sagt Falk Richter später), wird die abwesende Nominierte selbst zum Thema: Ob es eine geflickte Legende sei, dass Elfriede Jelinek bereits am Morgen nach der Wahl begonnen habe mit dem Schreiben. Chefdramaturgin Rita Thiele gibt stellvertretend einen Einblick in die „Schreibwerkstatt“ der Autorin: Sieben Wochen nach der Wahl hätte sie von Elfriede Jelineks Lektor den höchst komplexen und berührenden Text bekommen, die Autorin selbst habe sich als „Prädatix“ (Beutemacherin) bezeichnet aufgrund der Schnelligkeit.
Der Text als Lebewesen
Und wie hat sich Regisseur Falk Richter diesem enormen Stück Fließtext genähert? Ja, es sei ein endloser Monolog mit Sätzen über mehrere Seiten. Aber eben auch gut zu fassen, weil ein Anschreiben gegen das Älter werden, das Nichts-mehr-zu-sagen-haben und die Hilflosigkeit angesichts der vermeintlich neuen Kräfte. Dann habe man eine Fassung gemacht und die Schauspielenden ausgewählt. Die hätten dann erst einmal viel probiert, sagt Ensemblemitglied Julia Wieninger. Jelineks Sprache sei wie ein Mitspieler, wie ein weiteres Lebewesen auf der Bühne, mit dem man einen Umgang finden müsse.
Für Idil Baydar, Schauspielerin und Youtube-Comedian, sei der Umgang mit dem Text weniger schwierig gewesen: „Ich habe ja den ganzen intellektuellen Überbau nicht und konnte ihn einfach entspannt lesen“. Was der Moderator meine mit der Frage, ob der Theaterbetrieb ein „closed shop“ sei – im Backshop gäbe es doch auch geschlossene Arbeitsprozesse. Diese Vehemenz, mit der Baydar – genau wie ihre Kunstfigur Jilet Ayşe – eben diese Voraussetzungslosigkeit einfordert, bekommt Vasco Boenisch zu spüren. Kurz darauf aber auch noch die „schöne Antwort auf eine missglückte Frage“ (Boenisch), nämlich dass man bei Falk Richter „ein bisschen Kondition“ brauche, er „vom Arbeitsprozess her durchaus fordernd“ sei. Das Publikum jedenfalls hat ihren Humor mittlerweile verstanden und lacht über die pampige Selbstironie.
Podium voller Jelinek-Fans
Seine Faszination für den König, Donald Trump, ist Falk Richter anzumerken, wenn er über Jelineks Analogie zum antiken König Ödipus spricht: Jemand, der es schaffe, sich als Problemlöser zu verkaufen, obwohl er selber das Problem ist. „Mir ging es wie allen in der Wahlnacht“, sagt er, „ich bin davon ausgegangen, dass die großen Mächte der Demokratieverteidigung schon noch eingreifen werden“. Dass dem dann nicht so gewesen sei, habe ihn fassungslos gemacht wie alle anderen. Damit umzugehen, heiße die Devise, wie es zum Beispiel auch der Videokünstler Michel Auder tue, der, selbst ein Jahr älter als Elfriede Jelinek, seine Gefühle angesichts dieser Entwicklungen der Welt in Bildern zeige (die Videoprojektion in der Inszenierung). Eines seiner Anliegen als Regisseur sei gewesen, das auf humorvolle Art und Weise zu tun.
Einig sind sich alle, dass der Text von Elfriede Jelinek überdauern wird. Weil er eben nicht nur von Trump handle, sondern von der Renaissance des Rassismus, des Chauvinismus und des Faschismus, und weil er ungeheure Tiefe besitze, zusätzlich zur Tagesaktualität. Ilse Ritter, Falk Richter und Rita Thiele ergänzen sich in ihren Lobreden: ein Podium voller Jelinek-Fans! Jelinek brauche eben Darstellende, die mitdenken, sind sich die Schauspieler:innen einig. Mit ihren ständigen Rück- und Gegenfragen wollen sie Vasco Boenisch und dem Publikum wohl verdeutlichen, dass sie selbst das gerne tun, mitdenken.
Retter der Arbeiterklasse
Und unten im Saal? Wie in allen Publikumsgesprächen des diesjährigen Festivals kommt die erste Meldung von einer Regiestudentin der Folkwang Universität der Künste Essen. Selina Girschweiler stellt die wichtige Frage, wie Theater heute reagieren kann und lobt das Gleichgewicht zwischen Ruhe und Kampf in der Inszenierung, die sich vom reinen Ohnmachtsgefühl emanzipiere. Falk Richter spielt den Ball zurück ins Publikum und fragt die Mülheimer, ob die Theaterschaffenden ihrer Meinung nach genug tun würden. „Die können ja auch nicht mehr machen als alle anderen“, raunt es aus der mittleren Reihe – eine laute Antwort bekommt das Ensemble nicht. Benny Claessens für seinen Teil hat keine Lust mehr, es könnten doch nun alle bei Getränk und Essen für sich selbst darüber nachdenken. Die restlichen Podiumsgäste aber scheinen diesen Impuls zu gehen nicht zu verspüren und weil Essen und Trinken solo ja auch nicht so viel Freude machen, bleibt Claessens dann doch, mürrisch mit dem Kopf auf die Arme gestützt, auf seinem Stuhl hängen.
Einen Klodeckel für 22 Millionen Euro besitzen und es dann schaffen, dass die Leute glauben, er sei der Retter der Arbeiterklasse! – während Falk Richter noch im Kosmos des „Königs“ verweilt und Benny Claessens entnervt auf sein Handy schaut, werden im Publikum schon die Fahrplan- und Wegzeiten kalkuliert. Naheliegend, dass nach diesem Abend alle mit genügend Eindrücken versorgt sind. Ein älterer Herr aus dem Publikum spricht das Schlusswort: „Cambridge Analytica hin oder her, danke für diesen wunderbaren Theaterabend!“