+++ Festivalmagazin auf nachtkritik.de +++ Szenen für Morgen: Live-Blog +++

Laudatio auf Jens Raschke von Bettina Storm


„Bonjour miteinander!
Mesdames et Monsieurs,
meine sehr verehrten Damen und Herren,
liebe Kinder,
hochverehrtes Publikum-
einen wunderschönen Tag wünsche ich!
Ich habe die außerordentliche Ehre, Euch heute und hier
eine Geschichte zu erzählen,
die so ungewöhnlich,
so extraordinär,
so unglaublich fantastique ist, dass ich es selbst kaum glauben kann!“


Diese Zeilen aus JULES VERNE UND DIE GEHEIMNISSE VON KIEL waren das Erste, das mir von und mit Jens Raschke begegnete.

Lieber Jens, verehrtes Publikum, sehr geehrte Verantwortliche und Mitwirkende der Mülheimer Theatertage 2012,

Ich freue mich sehr, heute hier stehen zu dürfen, um ein paar Worte über den Preisträger des diesjährigen Kinderstückepreises, Jens Raschke zu sagen.

Das Theater im Werftpark ist stolz, Jens Raschke als festen Gast bezeichnen zu können, der die Betitelung Autor/Regisseur/Dramaturg trägt und je nach Projekt eine bis durchaus auch schon mal drei dieser Aufgaben gleichzeitig erfüllt.

Mit seinem siebten Stück SCHLAFEN FISCHE? wurde er „für seine mutige Themenwahl und deren moderne, auch sprachlich anspruchsvolle Umsetzung“ ausgezeichnet.
„Es gelingt dem Autor, die Geschichte der Verarbeitung eines Verlustes
in einem knappen und dennoch poetischen Ton zu erzählen
und sich glaubhaft in die Perspektive eines Kindes zu versetzen.“

Mit SCHLAFEN FISCHE? hat er sich an sein bis jetzt jüngstes Publikum gewagt.

Ich war inzwischen schon so oft dabei, wie Jens genau danach gefragt wurde, wie ihm dieser glaubhafte Einblick in eine Kinderseele und ein Kinderleben  gelungen wäre, worauf er meist mit einem schnöden
„ich war ja auch mal Kind“ antwortet.
Und in dieser Antwort schwingt eine ganz bezeichnende Eigenschaft von Jens Raschke mit.
Auch wenn er das jetzt sicherlich nicht gerne hören will: Understatement. Und zwar nicht als Masche, als Koketterie, sondern aus einem tiefen Vertrauen in seine Arbeit heraus.

Bezeichnend für ihn und diese Arbeit ist für mich vor allem seine Neugier. Wenn ich einen roten Faden, eine Gemeinsamkeit, die ich bisher darin kennen gelernt habe, benennen sollte, würde ich es zusammenfassen als: Interesse am Skurrilen, dem Absurden, dem Speziellen.
Oder um es in dem Jargon des Schallplattenliebhabers Jens Raschke zu sagen: den Raritäten.
Und ein Interesse daran, das bisher Unbeleuchtete zu beleuchten.

Das gilt für den Prozess des Suchens und Schreibens, genauso wie für die Umsetzung des Stücks.
Neben Regiearbeiten, die eine Spannbreite haben vom Kindertheaterbereich mit „An der Arche um Acht“ bis hin zu experimentelleren Produktionen wie „WOYZCEK VOICEOVER“,
hat er seine Stücke bisher alle in Eigenregie zur Uraufführung gebracht, teilweise ja auch ganz konkret für bestimmte Ensemblezusammenstellungen geschrieben.

Seine eben beschriebene thematische Neugier äußert sich im Praktischen dann im Ausprobieren.

Um an dieser Stelle mal ein bisschen aus dem Nähkästchen zu plaudern:
Da reicht es nicht, dass ein Schauspieler auf der Probe sagt:
„Nein, Jens, nach mehrmaligem Ausprobieren, ist es einfach wirklich nicht möglich, die Gießkanne in der einen Hand zu halten, Superpizzalieferboy in der Anderen, mit dem Fuß die Tür zu öffnen und am besten vorher auf ein Zeichen in der Musik auf dem anderen Bein durch die Tür zu springen.“

Aber bevor Jens eine seiner Ideen aufgibt, muss er das vorher schon selbst für unmöglich befunden haben.

Einen Moment in der Probenzeit zu SCHALFEN FISCHE?, den ich wohl nie vergessen werde, war, als es darum ging heraus zu kitzeln, wie es gehen kann, dass ein Kind seinen Vater zur Weißglut treibt mit nicht zu beantwortenden Fragen und darum, den richtigen sensiblen Ton für diese Vater-Tochter-Beziehung zu finden.
Ich lag also, inzwischen leicht verzweifelt mit meinen Buntstiften malend auf dem Bühnenboden und Jens legte sich kurzer Hand daneben um mal selber Papa zu spielen und den Dingen auf den Grund zu gehen, zu verstehen was dort passiert.

Um es mit den Worten der Jurydebatte zu sagen, wurde „als besondere Qualität auch die große situative Kraft des Stückes hervorgehoben.“
Um das mit meinen Worten weiter zu führen:
Es sind Welten, die Jens Raschke erschafft.
Er kreiert für jede Stückidee einen vollkommen eigenen Kosmos an unverwechselbarer Sprache, detailtiefer Atmosphäre, Musikalität und starken Bildern.
Es kommt nicht selten vor, dass er mit einem Musikstück zur Probe kommt, das so klingt wie er sich eine Szene, ein Gefühl, eine Stimmung wünscht.
Es kommt auch nicht selten vor, dass man sich das Timing eines Musikstücks besser nicht allzu früh einverleibt, weil es bis zur Premiere eh noch vielmals wechselt auf der Suche nach dem Perfekten.

Die Welten die er bisher entworfen hat könnten vielseitiger und unterschiedlicher kaum sein.
Mit RINGELNATZ-ICH BIN EIN BISSCHEN SCHIEF INS LEBEN GEBAUT, EINSTEIN SETZT SEGEL, KIEL WIE GESCHMIERT und bereits erwähntem JULES VERNE UND DIE GEHEIMNISSE VON KIEL hat er aus
historischen Schnipseln, Dokumenten und namenhaften Persönlichkeiten vergangener Zeiten, spannende und skurrile Historie-Mal-Anders-Abenteuer gebaut. Geschichten, wie die Geschichte sie auch hätte schreiben können, historisch mehr oder weniger korrekt, aus einem Blickwinkel betrachtet, aus dem die Welt sie sicherlich noch nicht gesehen hat.
Mit, um das Stück UNS SIEGFRIED selbst zu zitieren „keiner Angst vor großen Tieren, ich schau die in die Augen Epos!“ wagte er sich an den unendlichen Stoff der Nibelungen um diesen zu demontieren und

„mit Witz und dramaturgischem Geschick zu einem rasanten 60-Minuten-Destillat zusammen schrumpfen zu lassen und mit dem Mix aus mittelalterlichen Versen und handfester Umgangssprache ein Feuerwerk der Spielfreude zu zünden.“

RÄUBER ZWO, was Jens ebenfalls diese Spielzeit zur Uraufführung brachte, ist ein Paradebeispiel dafür, wie ein Bruchstück aus Schillers Fragment DIE BRAUT IN TRAUER ODER DER 2.TEIL DER RÄUBER Jens Raschke zu einer Fortsetzung der Räuber und damit einem Familiendrama im großen Stil inspirierte.

„Schiller trifft Tarantino, Bühnencomic auf Horror und Western-Melodram.
So changiert das Stück zwischen Rahmenhandlung und deren Abwegen, Erzählung und Spiel, rasanten Rollenwechseln und stiller Einfühlung.“

Große Fragen, starke Charaktere, existentielle Konflikte auf der einen Seite, schwarze Ironie und clownesker Humor in der Überspitzung auf der anderen Seite.
Eine Wellenbewegung zwischen Hoch und Tiefmomenten, die als Struktur in SCHLAFEN FISCHE? noch viel deutlicher vorherrscht und das Stück vor allem im Umgang mit seinem Thema zu einer Besonderheit macht.

Er schafft es, eine Geschichte zu erzählen, die anrührt ohne auf die Tränendrüse zu drücken, dennoch zu Tränen rührt, aber dazwischen immer wieder aufatmen und sogar laut auflachen lässt.

Diese Vielseitigkeit seiner Arbeit führt dazu, dass seine Stücke zwar mit dem Auftrag für eine gewisse Altersgruppe entstehen, aber sich in der Spielpraxis bei einem breit gefächerten Publikum beliebt machen und alle Altersgruppen auf ihrer Ebene erreichen.
So auch SCHLAFEN FISCHE?

Es freut mich, dass das Ergebnis seiner Unternehmung heute ausgezeichnet wird, ein Stück zu einem schwierigem Thema zu schreiben, aus einer heiklen Perspektive erzählt, mit dem Anspruch dabei als Erwachsener zwar an Erfahrung reicher, aber nicht im geringsten an Antworten schlauer zu sein, als ein 10jähriges Mädchen.
Es ist eine bemerkenswerte Sichtweise, keine zwei Kategorien aus Kinder- und Erwachsenentheater zu machen, sondern dem Thema für sich und seinen Figuren gerecht zu werden.
Dem Publikum viel zutrauend und zumutend rückt er mit großer Sensibilität und Dreistigkeit seinen Themen ans Eingemachte.

Die Komplexität der Figur Jette, die Jens Raschke erschaffen hat, spiegelt seine Phantasie wieder, eine Figur zu erfinden und sie einzigartig zu machen.
Liebevoll und rücksichtslos in einem behandelt er dabei seine Figuren und lässt trotz aller Genauigkeit und konkreter Vorstellung genug Raum für das Geheimnis der Figur.

Nicht nur die kleinen, großen und letzten Fragen des Lebens bleiben hier und da offen gelassen, auch gibt Jettes Sichtweise kein lineares Bild eines Trauerfalls ab, sondern ihre nicht vollständige, individuelle und kindlich gefilterte Sichtweise mit Ereignissen, die sie erzählen will.

Schon aus früheren Zusammenarbeiten sind bei mir die Worte von Jens hängen geblieben „Ist mir egal weswegen das so ist, das kannst du entscheiden, das musst mir auch nicht sagen.“ Im Idealfall behalte die Figur ein Geheimnis.
Es sind die rational nicht immer logischen und nicht immer erklärbaren Momente, die Jens schätzt und sucht, unlogische Formen und ungewöhnliche Mittel, mit denen er das Publikum auf viele Weisen zu berühren sucht.

Ich finde es nur angemessen dich und deine Arbeit ebenfalls als Rarität zu bezeichnen und dir an dieser Stelle zu danken für all die Welten, die du mir geöffnet hast und die spannende, erfüllende Arbeit.
Aber das weißt du ja.

Herzlichen Glückwunsch!
Und um ebenfalls mit Zeilen von Jens Raschke zu enden, verbleibe ich mit den Schlussworten aus Räuber Zwo:

„Hugh. Beziehungsweise: Adiós! Und Basta!“