Laudatio auf Elfriede Jelinek zum Publiumspreis der Stücke 2018


Erst mal eine E-Mail.

22. Juli 2014, 12.04 Uhr:

Liebe Elfriede,
ich bin sehr froh über die Wahrnehmung unserer Arbeit bei „FaustIn And Out“. Jetzt ist „Das schweigende Mädchen“ dran. Ein riesiges aktuelles Thema. Und ich hoffe, dass sie weiter schweigt, damit unser Titel aktuell bleibt. Auch egal, denn das Stück hat eigentlich einen größeren Wert, als nur das schweigende Mädchen zu sein.
Die Weltmeister-Nation braucht schon auch etwas Kritik.
Des Weiteren hat dein Cowboy eine wichtige Frage. Und ich weiß, das ist vielleicht eine überflüssige Frage. Ein Schuss in den Ofen sozusagen. ARTE möchte gerne ein Fernsehinterview mit dir machen, in dem es um „Das schweigende Mädchen“ gehen soll. Die Redakteurin von dieser Sendung heißt Sabine Willkop. Sie hat mit dir schon mal über „In den Alpen“ gesprochen.
Jetzt gerade hat sich meine Funktion von Cowboy zu Bote gewandelt. Nur schade, dass die Boten immer zu Fuß gehen. Mir fehlt mein Pferd.
And, please, don’t kill the messenger.
Liebe Grüße
Dein Johan Simons

22. Juli 2014, 17.22 Uhr:

Lieber Johan,
du kannst ja ein reitender Bote sein! Das ist eine Art intellektueller Cowboy, der immer Sachen auswendig lernen muss.
Ich glaube nicht, dass sie spricht. Es hätte aber nicht viel geändert. Vielleicht hätte ich noch einen Epilog schreiben müssen (meine Epiloge würden inzwischen schon ein ganzes Buch füllen).
Bitte verzeih mir, und Frau Willkop soll mir auch verzeihen, aber ich kann das nicht mehr machen. Wenn ich es einmal mache, kommen wieder alle. Ich kann das nicht ertragen. Die Leute müssen akzeptieren, dass ich mich zurückgezogen habe. Jeder hat das Recht, krank zu sein, ich bins halt im Kopf. Nicht gern, aber was soll man machen… „In den Alpen“ ist schon sehr lange her, damals ging das noch. Ich kann die Dame nur um Verständnis bitten. Musst halt du für mich sprechen.
Ich hoffe, ihr macht die Arbeit gern und habt eine akzeptable Partitur aus dem Riesentrumm von Stück herausgeschält!
Alles Liebe, Umarmung und herzliche Grüße, auch an alle SchauspielerInnen.
E.

Liebe E., liebe Elfriede!
Nun „muss ich für dich sprechen“… Nun darf ich für dich sprechen … dein Cowboy aus München (was inzwischen Bochum ist – oder hier, heute, Mülheim an der Ruhr).
Cowboy Johan Simons meldet sich zu Wort.
Ich hoffe, du kannst mich hören. Jetzt gerade zwar nicht, aber später, wenn es ein Video hiervon gibt. Dann kannst du es auch zweimal anhören, falls ich mit meinem Steinkohl-Deutsch zu undeutlich bin. Du darfst auch vorspulen, warum nicht.

Du, Elfriede, darfst alles.
Du darfst 100 Seiten schreiben (oder: 93 wie jetzt bei „Am Königsweg“), 93 Seiten, Zeile an Zeile, ohne Punkt und Komma. Naja, schon mit Punkt und Komma. Aber ohne Unterbrechung. Und ohne Rücksicht auf die Theater und auf die Regisseurinnen und Regisseure, die das inszenieren müssen.
Das ist doch wunderbar: diese Freiheit.
Und die Regisseure dürfen bei dir auch alles. Das finde ich noch mal mehr wunderbar.
Du hast grenzenlose Freiheit, und du gibst grenzenlose Freiheit.

Aber noch mal zurück zu „Punkt und Komma“.
Ist das eigentlich alles – für mich als Niederländer gefragt – ist das eigentlich alles fehlerfrei, was du schreibst?
Oder gibt es auch noch einen Redakteur oder einen Lektor, der dich verbessert?
Ich glaube, das ist alles fehlerfrei, was du schreibst.
Jedes Komma, jeder Punkt.
Du weißt ganz genau, wie Sprache funktioniert.
Du weißt, wie Sprache fließen muss. Du weißt, dass Sprache auch Musik ist.

Wenn ich einen neuen Text von dir lese, ist es wie bei Schostakowitsch. Die 4. Sinfonie von Schostakowitsch.
Die kennst du, da bin ich mir sicher.
Dieser Drive, in dem du schreibst, der erinnert mich immer an den Anfang dieser 4. Sinfonie.
Und ich spüre, wie du voller Freiheit bist mit deinen Worten, mit deinen Gedanken, mit deinen Zweifeln.

Was ich dir immer schon mal sagen wollte: Für mich als Niederländer war deine Sprache eine Riesenentdeckung.
Denn ich komme aus einem Land, in dem Kargheit sehr geschätzt wird.
Schau dir Mondrian an.
Oder Schoonhoven.
(Obwohl wir natürlich auch Rembrandt hatten.)
Aber wir haben leere Landschaften. Du kommst aus einer Berglandschaft. Dein Blick stößt fast immer auf eine Bergspitze. Mein Blick stößt auf nix. Mein Blick kann einfach in die Weite blicken.
Da komme ich her.
Die niederländischen Maler, die Landschaftsmaler, die haben einfach unten eine horizontale Linie gezeichnet, vielleicht noch einen Fluss und ein paar Kühe. Aber sonst waren die Gemälde leer, nur gefüllt mit Wolken.
Einer Prärie gleich.
Ich fühle mich wie Lucky Luke, der auf eine große Künstlerin gestoßen ist.
Der auf den Reichtum der Gedanken gestoßen ist.

Du sprichst in deinen Texten ohne Rücksicht deine Gedanken aus.
Ohne Rücksicht auf das, was Andere denken oder erwarten oder gern hören wollen.
Ohne Rücksicht auf die Steuerbehörden, den NSU, die Gerichte, die Terroristen, die Karikaturisten, die Täter, die Mittäter, die Mitläufer, die Schreienden, die Stummen, die Trumps dieser Welt und die Wirtschaftsbosse dieser Welt und die Wählerinnen und Wähler dieser Welt – und auch: ohne Rücksicht auf dich selbst.
Das ist auch schmerzvoll.
„Bitte seien Sie mir nicht böse und hören Sie lieber nicht auf mich!“, heißt der letzte Satz in „Am Königsweg“.
Doch, Elfriede! Ich höre lieber auf dich. Sogar lieber als auf viele andere Schriftstellerinnen und Schriftsteller.

Auch wenn ich nicht alles verstehe in deinen Texten.
Aber ich weiß: Was man bei den Dramen von Elfriede Jelinek nicht versteht, das muss man musikalisch betrachten.
Ich glaube, dass nicht jedermann jeden Satz versteht von ihren Stücken. Und das finde ich gerade schön.
Aber wenn man die Stücke von Elfriede Jelinek spielt, dann soll man das, was man nicht versteht, auch nicht so interpretieren, als würde man es verstehen. Denn das fällt gleich auf.
Wie das anders geht, das hat Benny Claessens gezeigt in „Am Königsweg“ in der Inszenierung von Falk Richter. Benny Claessens hat die Texte auf vielfältige Weise benutzt. Er hat nicht so getan, als wären diese Texte die letzte Wahrheit, sondern er hat auch damit gekämpft. Er war rücksichtslos. Und er war frei.
Sobald man anfängt, die Texte von Elfriede Jelinek nur auf eine Weise zu deuten, als Schauspielerin oder als Schauspieler zu sagen: Ich weiß ganz genau, was hier steht… – dann kommt man in die Wüste.

Die Wüste…
Die Wüste kann man vergleichen mit der Prärie.
Ich weiß gar nicht mehr so genau, warum ich für Elfriede Jelinek ein Cowboy bin.
Aber: Es gibt gute Cowboys, die aus der Prärie kommen, und schlechte Cowboys.
„Am Königsweg“ handelt natürlich von einem schlechten Cowboy. Von einem richtig schlechten Cowboy. Einem Cowboy mit nordkoreanischen Zügen.
Einem amerikanisch-nordkoreanischen Twitter-König-Cowboy.

Ich bin froh, Elfriede, dass du weit weg bist von der Twitterkultur.
(Nur 280 Buchstaben, das wäre aber auch wirklich unvorstellbar bei dir.)
Twitter ist inzwischen zu einem erschreckenden Mittel der Rechtspopulisten geworden. (Nicht nur, aber auch.)
Doch man kann den Mensch nicht nur oberflächlich betrachten, der Mensch ist komplex. Und das spürt man immer wieder in deinen Texten: die Komplexität der Menschheit.

Deine Schriftur, dein Schreiben, Elfriede, ist das Gegenteil der Twitterkultur, weil es so weitreichend ist und so voller Zweifel.
Wir leben heute in einer Gesellschaft, die Zweifel ausschließt.
Ich glaube aber, dass Leute nicht Entscheidungen brauchen. Sondern: Leute brauchen Zweifel.
Wenn man keinen Zweifel mehr kennt, hört man nicht mehr zu.
Das große Verdienst des deutsch-sprachigen Theaters nach dem 2. Weltkrieg war eben dieser Zweifel. Man hatte etwas erlebt, was radikal und schrecklich war. Und auf einmal brachte Kultur Auskunft und Fragen.
Kultur soll Zweifel haben.

Du hast gleich doppelt Zweifel, Elfriede. Auch Selbstzweifel.
Deine Selbstzweifel sind mir immer eine große Hilfe.
Denn daraus entsteht Widerspruch: In einem Satz behauptest du „das“, und im Satz darauf behauptest du das Gegenteil von dem, was du davor gesagt hast.
Widerspruch ist gut, denn mit dem Widerspruch hört man das Gegenteil an. Widerspruch hat Energie.

Widerspruch ist auch demokratisch.
Ich finde es einfach fantastisch, dass du demokratische Kunstwerke schaffst.
(So hast du es selbst mal irgendwo genannt, glaube ich.)
„Demokratische Kunstwerke“ bedeutet, dass die Regisseurinnen und Regisseure, die Dramaturginnen und Dramaturgen, die Schauspielerinnen und Schauspieler – dass die alle selbst entscheiden müssen, welche Teile von deinem Text sie benutzen.
Du unterwirfst damit auch die Schauspieler, Dramaturgen und Regisseure dem Zweifel.
„Welchen Satz nehme ich?“
„Was ist jetzt in dem Moment wichtig für mich zu sagen?“
„Vielleicht muss ich dann diesen einen Satz noch mit dazu nehmen? – Ja, bestimmt muss man diesen einen Satz noch mit dazu nehmen! Denn sonst versteht man den anderen nicht…“
Du übergibst deine Selbstzweifel an die anderen Künstler.
Und das ist wichtig.

Die Selbstzweifel von uns linken Intellektuellen...
Elfriede, ehrlich gesagt: Ich weiß auch nicht, wie man weitermachen muss, mit diesen Rechtspopulisten.
Ich sehe immer vor mir, wie du hinter deinem Rechner sitzt und fast wie eine Pianistin die Tasten, die Tastatur, bespielst:
Schnell. Wütend. Traurig. Froh auch manchmal, dass man das Ganze hinter sich lassen kann. Indem man schreibt.

Deutschland ist ein Land von Dichtern und Denkern.
Aber auch von Fußballern.
Auch von Geflüchteten.
Auch von Leuten, die vielleicht nicht von diesem Stamm, diesem Stamm-Tisch von „Dichtern und Denkern“, sind.
Du hast immer ein Herz für diejenigen, die nicht dazu gehören, Elfriede.
Du gibst denen, die nicht dazu gehören, eine Stimme. Deine Stimme.
Du bist zornig gegen die Mächtigen, und du hast eine gnadenlose Wut gegen deine eigene Ohnmacht. Aber Mitgefühl hast du für die, die draußen stehen.

Wenn ich mir deinen Körper vorstelle hinter dieser Maschine mit den Tasten, dann ist das doch eine Bewegung nach vorn, offensiv.
Das ist: Sich ausliefern.
Darum verstehe ich auch, dass du jetzt nicht da bist, um diesen schönen Preis entgegen zu nehmen. Und dass du keine Interviews mehr gibst.
Denn du lieferst dich ganz aus in deinen Texten.
Nur wenn man alles weiß, wie diese Rechtspopulisten jetzt vorgeben (und auch einige Linke machen diesen Fehler), dann kann man sich nach hinten lehnen: Man hat etwas gesagt, ein bisschen gezündelt, und lehnt sich zurück.
Du gehst aber nach vorn. Du gehst weiter.
Deine Sprache geht immer weiter.

Darum kann man als Regisseur auch immer nur einen Teil deiner Sprache inszenieren.
Nein, das ist nicht wahr, man kann auch den ganzen Text aufführen, aber die Vorstellung dauert dann 12 Stunden. Und nicht jedermann ist Nicolas Stemann, wie in seinen „Kontrakten des Kaufmanns“, zum Beispiel, wo es so war, als ob du selbst dabei warst.
Diesmal, bei „Am Königsweg“, war Benny Claessens dein Stellvertreter auf der Bühne. Und das Publikum hat euch geliebt, weshalb du heute mit dem Publikumspreis der Mülheimer Theatertage 2018 ausgezeichnet wirst.
Das Publikum ist mit dir mitgegangen. Ist den „Königsweg“ mit gegangen.

Du bist selbst eine Königin, für mich.
Vielleicht magst du das gar nicht gern hören, du Königin.
Du Seherin. Du Blinde. Du Autorin. Du Schriftstellerin, Schrift-Stellerin.
Du stellst dich mit deiner Schrift. Und das reicht auch.
Hinter dem Rechner lieferst du dich mit jedem Text neu aus.
Und man kann sich nicht ständig ausliefern.
Wenn man auf die Straße geht oder hier anwesend sein könnte, kostest dich das eine Menge Energie. Ich denke, wenn du ständig in die Öffentlichkeit gehen müsstest, dass du innerhalb eines Monats tot wärest.

Nein, bleib hinter deinem Rechner.
Schreibe der Welt deine Berichte, Elfriede.
Bitte. Die sind wichtig.
Und immer wieder neu.

Alles Liebe

Dein Johan

 

Johan Simons
Mülheim an der Ruhr, 24. Juni 2018