Der Club der kranken Dichter


Diskurs

„Es gibt kein Genie ohne einen Schuss Verrücktheit.“ Das ist einer dieser Sätze, die Aristoteles im Internet angedichtet werden, deren Quellennachweise aber irgendwie verschwunden zu sein scheinen. Entscheidend ist jedoch auch lediglich die Idee der Aussage: Die Vorstellung eines „verrückten“ Genies, vor allem im künstlerischen Bereich, hält sich schon lange. Und es gibt genug reale Beispiele dafür: Von Ernest Hemingway über Fitzgerald, Sylvia Plath, Virginia Woolf und Sarah Kane, Heinrich von Kleist, Leo Tolstoi, Mark Twain und Charles Dickens bis hin zu J. K. Rowling. Sie alle litten irgendwann in ihrem Leben an einer psychischen Störung, nicht wenige von ihnen nahmen sich sogar selbst das Leben.

„Passierte das jedem, der schrieb? Wenn ich mir die verrückten Biografien ins Gedächtnis rief: offensichtlich schon“, schreibt Thomas Melle in seinem autobiografischen Roman „Die Welt im Rücken“, in dem er von seinen Erfahrungen mit der manisch-depressiven Erkrankung erzählt. Aber stimmt dieser Eindruck wirklich? Haben Künstler:innen im Allgemeinen und Schriftsteller:innen im Speziellen ein erhöhtes Risiko, irgendwann in ihrem Leben eine psychische Störung zu entwickeln? Und wenn ja, warum ist das so?

Schriftsteller sterben früh

Die psychologische Forschung hat sich, vor allem in den letzten Jahren, viel mit diesem Thema auseinandergesetzt und das in Filmen und Serien so oft propagierte Klischee eines verrückten Genies untersucht. Mittlerweile widerlegt ist die Vorstellung, dass ein hoher IQ automatisch zu Problemen à la Sheldon Cooper oder Sherlock Holmes, führt. Zur Unfähigkeit, sich in sozialen Situationen angemessen oder auch nur höflich zu benehmen und sich für irgendetwas anderes als das eigene Spezialgebiet zu interessieren. Hochbegabte, also Menschen mit einem IQ über 130, sind sogar tendenziell etwas besser angepasst als andere – sozial, emotional wie in den meisten anderen Bereichen ihres Lebens.

Mit Hochkreativen ist das jedoch eine ganz andere Sache, da steht die Datenlage noch auf unsichereren Beinen. Auf der einen Seite haben Studien (z.B. Zenasni & Lubart, 2013 und Pennebaker et al., 1997) herausgefunden, dass eine gute Stimmung in der Regel kreativer macht und dass Schreiben als eine Form des Selbstausdrucks gut für die psychische Gesundheit ist. Somit kann es eine Form sein, mit Stress oder Problemen umzugehen, selbst wenn diese nicht das Thema des eigentlichen Textes sind. Das geschriebene Wort als Heilmittel für die Seele, sozusagen.

Auf der anderen Seite sprechen viele rein quantitative Zahlen eine andere Sprache: In einer Studie des Psychologen Arnold M. Ludwig wurden zwischen 1960 und 1990 über 1000 Hochkreative untersucht. Sie waren doppelt so gefährdet, irgendwann in ihrem Leben an einer psychischen Störung zu leiden. 87% der Autoren unter ihnen erkrankten, während es in einer Vergleichsgruppe von Naturwissenschaftlern, die auf ihrem Gebiet ebenfalls als Genies angesehen wurden, nur 28% waren –  was ungefähr dem Durchschnittswert der Allgemeinbevölkerung entspricht. Auch haben Schriftsteller von elf untersuchten kreativen Berufsgruppen die mit großem Abstand niedrigste Lebenserwartung (61,7 Jahre), wie eine andere Studie herausfand. Sie liegen fast sieben Jahre unter den Cartoonisten, die am zweitfrühsten sterben. Nach Vermutung der Forscher:innen liege das daran, dass Schreiben wesentlich mehr psychischen Druck bedeute als andere Kunstformen. Dem Gedanken folgend wären Autor:innen damit aber ja sogar die „verrücktesten Genies“ der „verrückten Genies“.

Wahnhafter Schreiber, erbarmungsloser Lektor

Depression, manisch-depressive Störungen und Schizophrenie sollen bei Hochkreativen besonders häufig vorkommen. Es gibt in der Psychologie die Theorie, dass vor allem eine manisch-depressive Erkrankung auch förderlich für die kreative Arbeit sein kann, so perfide das vielleicht auch klingen mag. Die Erkrankung könne zum Beispiel helfen, ein gutes Buch zu schreiben. Die manische Phase, die zumeist von starker Euphorie und Energie geprägt ist, sei ideal zum exzessiven, fast wahnhaften Schreiben. In der darauffolgenden depressiven Phase dagegen, in der Antriebslosigkeit, Hoffnungslosigkeit und Selbstkritik Einzug halten, könne der Betroffene zu seinem eigenen härtesten Kritiker und Lektor werden: Alles, was nicht gut genug ist, wird gestrichen. In der nächsten manischen Phase würden die gestrichenen Stellen dann neu geschrieben. Nach einigen dieser Auf und Abs müsste anschließend ein wirklich gutes Werk entstehen, so die Theorie.

Natürlich funktioniert das eben nur in der Theorie so reibungslos, da Menschen keine Maschinen sind, deren Stimmung man je nach Nutzen hoch und runter drehen kann. Bis heute wissen Forscher:innen trotz vermehrter Forschung nicht, wie genau dieser Zusammenhang funktioniert: Schreiben psychisch Labile eher, fördert das Schreiben psychische Störungen oder liegt diese Korrelation an einer ganz anderen dritten Variablen, die man bisher einfach nur noch nicht kennt oder zumindest noch nicht nachweisen konnte? Bis auf viele, zum Teil auch sehr plausibel klingende Theorien und viele gefundene Zusammenhänge, die aber nicht unbedingt kausal auseinander folgen müssen, gibt es nur wenige Erkenntnisse auf diesem Gebiet. Das liegt auch daran, dass es relativ wenige mögliche Versuchspersonen, also kreative Genies, im Vergleich zur Gesamtbevölkerung gibt – was die Forschung natürlich deutlich erschwert.

Was man weiß, ist: Moderate Kreativität ist förderlich für die psychische Gesundheit, hochkreativ zu sein, ist hingegen in vielen Fällen eher mit psychischen Problemen verbunden. Um es also abschließend mit den etwas pathetischen Worten des amerikanischen Psychologen Dean Keith Simonton zu sagen, der sein Leben lang zu dem Zusammenhang zwischen psychischen Störungen und Kreativität geforscht hat: „Um der Welt bleibende Meisterwerke zu schenken, mussten kreative Genies ihre Seele an den Teufel verkaufen.“