19. Mai 2018 •
Nach gut zwei Stunden steht der Gewinner des mit 10.000 Euro dotierten Mülheimer KinderStücke-Preises fest: Die Juror:innen entscheiden sich für „In die schläft ein Tier“ von Oliver Schmaering. „Faszinierend“, „großartig“, „eine hohe Varianz an Sprache“, begründen sie ihr Urteil. Das fällt diesmal einstimmig aus und ist zum Ende der Diskussion auch wenig überraschend. Ein entgeistertes Raunen ging viel früher durchs Publikum, und zwar schon nach der ersten Entscheidungsrunde.
Da wählt jede:r Juror:in drei Stücke aus, die er:sie nicht in der engeren Auswahl sieht. Oliver Bukowski will eigentlich gar nicht anfangen, seine Auswahl zu offenbaren. Er hält es für eine strukturelle Ungerechtigkeit, da die Stücke „Dinge sind, die nicht vergleichbar“ seien, somit bleibe die Entscheidung immer ungerecht. Dennoch muss eine Wahl getroffen werden. Zwei Juror:innen waren sich in allen drei Stücken einig, ein Stück flog nur mit einer Zweidrittelmehrheit raus. Keine Chance mehr auf den Preis haben „Anfall und Ente“ von Sigrid Behrens, „Wie man die Zeit vertreibt“ von Simon Windisch und Ensemble und: Thilo Refferts „Mr. Handicap“. Die Jugend-Jury ist fassungslos. „Mr. Handicap“ hatten sie noch wenige Minuten zuvor als bestes Stück geehrt.
Inklusion der Mohrrüben
Neben der Erwachsenenjury vergibt auch die Jugend-Jury einen Preis, mittlerweile zum vierten Mal. In der Jury sitzen acht Mädchen und Jungen zwischen 12 und 17 Jahren. Vor dem Festival lernten sie in Workshops, ihr „Analysevermögen weiterzuentwickeln“, wie Festivalleiterin Stephanie Steinberg erklärt, und wurden somit zu jungen Expert:innen. Aber der Nachwuchsjury ist die Entscheidung nicht leichtgefallen. Für Thilo Refferts „Mr. Handicap“ spreche vor allem die thematische Relevanz, das Thema Inklusion werde „viel zu wenig angesprochen“. Auch konnten die Juror:innen mit den Figuren mitfühlen und finden die zahlreichen Wendungen des Stückes spannend. Insgesamt eine Geschichte, die „sehr berührt und ermutigt“. Durch das Stück könne man lernen, dass „jeder anders ist, aber trotzdem gleich“. Ein Zitat will die Jugend-Jury noch hervorheben: „Meine Oma, nicht deine, meine, die hatte ihre Mohrrüben noch im Garten. Die wusste noch, dass jede Rübe anders ist, die hat keine aussortiert, da kamen alle in die Küche. Das war Inklusion, die wusste das bloß nicht.“ Unter Applaus überreichen sie Thilo Reffert die Urkunde und ein selbstgemaltes Bild, auf dem ganz unterschiedliche Rüben in einem Korb zu sehen sind.
Die Erwachsenenjury mit Oliver Bukowski (freischaffender Autor und Dozierender), Martina van Boxen (Leiterin des Jungen Schauspielhaus Bochum) und Silvia Stammen (Theaterkritikerin) sieht das anders. „Mr. Handicap“ sei zwar ein gutes und wichtiges Stück in Hinblick auf Inklusion, doch Silvia Stammen findet, dass es sich nach der Pause verläuft und das Ende zu sehr „gute heile Welt“ sei.
Bei „Anfall und Ente“ geht es um Mut und Verlust. Doch überzeugen konnte es nicht, weil es laut Oliver Bukowski trotz der merkbaren „Lust an der Sprache“ nach einiger Zeit etwas „ermüdend“ sei. Martina van Boxen erklärt, dass „Wie man die Zeit vertreibt“, in dem es um Langeweile und die Überwindung der Zeit geht, zwar „eine großartige Idee sei“, doch die sprachliche Qualität unter der „Aneinanderreihung von Themen“ leide.
Direkte und drastische Sprache
Es stehen also noch zwei Stücke zur Auswahl: „Weiß ist keine Farbe“ von Christina Kettering und „In dir schläft ein Tier“ von Oliver Schmaering. Der Autor behandelt in seinem Stück die wissenschaftliche Findung eines Impfstoffs gegen Diphtherie und das Traummotiv. Christina Ketterings Themen sind Wut, Rassismus und die Frage nach Gerechtigkeit. Das Stück hätte Martina van Boxen in der ersten Runde rausgeworfen, sie wurde aber von den Kolleg:innen überstimmt. Ihre Begründung: Es sei ihr nicht eindeutig, was das Stück will und die verschiedenen Erzählebenen hätten sich ihr nicht erschlossen. Das zweite Stück hingegen habe sie gelesen „und nicht verstanden“, vor allem die Sprache der Wölfe. Sie habe es immer wieder gelesen und darüber nachgedacht, was sie fasziniert. Silvia Stammen hingegen begründet ihre Wahl für „Weiß ist keine Farbe“ so: Die Autorin gehe mit einer ungewöhnlichen Art und Weise an die Thematik heran, am Anfang sehe man erst die Reaktion und später werde die Aktion deutlich. Auch mag sie das offene Ende. Dennoch muss sie zugeben, dass die Mutterfigur sehr schwach sei. Oliver Bukowski stimmt ihr zu, das Thema der Gerechtigkeit und Rache sei ein Argument dafür, genauso wie die Sprache. Diese beschönige nichts, sondern sei „direkt und drastisch“, was nicht selbstverständlich sei und er bewundert die Autorin, die damit angefangen hat. Er findet auch: „Man denkt darüber nach“ und sei irritiert.
Man wird geliebt in Mülheim
Nächste Stückbesprechung: „In dir schläft ein Tier“ von Oliver Schmaering. Silvia Stammen mag die mystischen Aspekte des Stückes sowie die Idee, dass ein Tier, welches auch eine Bakterie sein kann, in einem schläft. Oliver Bukowski hebt besonders die kognitive Überscheu heraus und die nicht leichten Assoziationssprünge. Es sei ein Stück, das sich nicht um Eindeutigkeit bemühe, was bei einem Stück, in dem es um Wissenschaft geht, ungewöhnlich sei. Aber dennoch habe es eine „hohe Varianz an Sprache“ zum Beispiel durch die lyrischen Stellen, den erzählten Witz oder die Umgangssprache. Auch Martina van Boxen muss da zustimmen, es sei auf eine intelligente Art und Weise lustig, poetisch, sinnlich und die Sprache sei großartig.
Dann steht die Entscheidung an. Jede:r muss seinen:ihren Favoriten nennen. Martina van Boxen und Silvia Stammen nennen sofort „In dir schläft ein Tier“. Oliver Bukowski zögert erst, entscheidet sich dann auch dafür. Tosender Applaus und der Autor steht sichtlich gerührt auf. Alle fünf nominierten Autor:innen sind anwesend und haben die offene Diskussion verfolgt. Schmaering bedankt sich herzlich für den Preis, der außerdem mit einer Aufführung beim Heidelberger Stückemarkt verbunden ist. Er sei aber überrumpelt, weil er damit nicht gerechnet habe. Jetzt wisse er gar nicht, was er sagen soll. Er findet dann noch ein schönes Lob für Festival und Leitung: „Es wird gut für einen gesorgt, man wird betreut, man wird geliebt“.