27. Mai 2016 •
Sie warten auf die preiskrönende Debatte? Sie sehen das unangekündigte achte Stück der 41. Mülheimer Theatertage. Große Performance auf der Bühne des Theaters an der Ruhr. Nach zweieinhalb Stunden Show geht „Drei sind wir“ des abwesenden Wolfram Höll als Sieger von den Brettern. Der Weg dorthin: ein langer Marsch über die Inhaltsebenen mit plötzlicher Erklimmung des Prämierungsgipfels.
Die Jury bestimmt das Tempo
Schon als Juror Franz Wille in seinen Einleitungsworten das hohe Niveau der diesjährigen Stücke lobt, deutet sich an, woraus diese Debatte hauptsächlich bestehen wird: Eloquente, und als solche durchaus vergnügliche Statements der fünf Jurymitglieder, deren eigener Unterhaltungswert zwischenzeitlich Zweifel aufkommen lässt, ob man wirklich auf ein Ergebnis zusteuert oder vielmehr die Sprachgewandtheit der versammelten Theaterkenner:innen feiert. Über das exakte formale Vorgehen der Debatte ist sich das gesamte Podium wiederholt unsicher, aber Moderator Michael Laages gibt sich Mühe, immer wieder alles in geregelte Bahnen zu lenken. In welchen Schritten genau hier ein Siegerstück herausgeschält werden soll, wird dem Publikum leider jedoch nur scheibchenweise mitgeteilt, was zu verstärkter Verunsicherung und Unmut führt, da niemand mehr einschätzen kann, wie lange die Debatte noch dauern wird.
In der ersten Runde werden alle Wettbewerbsstücke von jeweils einem Jurymitglied noch einmal kurz in ihren Besonderheiten vorgestellt. Zaghaft steigt man in die Diskussion ein. Leider verstrickt sich diese Etappe vor allem in inhaltlichen Fragen; zu Meinungsverschiedenheiten und Wortgefechten kommt es nur ansatzweise. Das Publikum – ein immerhin zu etwa zwei Dritteln gefüllter Saal – wünscht sich zusehends eine Stoppuhr für die monologischen Wortbeiträge (und natürlich eine der Laugenbrezeln, die hämisch und ungegessen vom Jurytisch herüberzwinkern). Aber wie Benjamin von Blomberg auf den Zwischenruf „Nächstes Stück!“ nach knapp zwei Stunden nicht zu Unrecht erwidert: „Die Jury diktiert das Tempo und die Stücke tun das. Die Debatte dauert so lange, wie sie dauert.“ Trotzdem sind im Ergebnis diejenigen Stücke, die aufgrund des alphabetischen Vorgehens nach Autor:innennamen früher verhandelt werden, im Vorteil: Ferdinand Schmalz‘ „dosenfleisch“ etwa wird zwar mit komplimentierenden Worten wie „Ein Riesenblödsinn, aber er ist herrlich!“ (Franz Wille), aber doch in nur wenigen Minuten abgehandelt.
Kopf an Kopf
Schließlich sind die fünf Juror:innen doch gezwungen, aus den „sieben Glücksfällen“ im Wettbewerb ihre vier Favoriten auszuwählen. Das Ergebnis: Sibylle Berg, Wolfram Höll, Fritz Kater, Thomas Melle. Flugs soll jede:r auch aus diesen noch das beste Stück benennen. „Ich auf gar keinen Fall zuerst!“, weckt der auch nach Mitternacht noch muntere von Blomberg die Lachmuskeln des Publikums. Hubert Spiegel springt ein und entscheidet sich für Bergs „Und dann kam Mirna“, das „nah an vielen aktuellen Diskursen“ sowie „intelligent, witzig und tiefschürfend“ sei. Anne Lenk als nächste Rednerin votiert für Hölls „Drei sind wir“: „Es eröffnet in seiner Bauweise unglaublich viele Spielräume und theatrale Situationen.“ Benjamin von Blomberg denkt ausführlich über Melle nach, stimmt dann aber doch für Höll. Regina Guhl ringt mit sich und landet schließlich bei Sibylle Berg, während sich Franz Wille von Thomas Melles „Bilder von uns“ hat überraschen lassen und damit zwar zur Minderheit, aber doch zum Zünglein an der Waage wird. Es steht zwei zu zwei: Höll oder Berg?
Abruptes Ende
„Höll, weil der mehr riskiert mit seinem Text“, entscheidet sich Wille. Und damit ist die Diskussion beendet, der Gewinner gekürt. Die Zuschauenden blicken überrascht nach links und rechts. So plötzlich hat wohl niemand das Ergebnis erwartet. Festivalleiterin Stephanie Steinberg gibt noch bekannt, dass Hölls direkte Konkurrenz „Und dann kam Mirna“ den Publikumspreis gewonnen hat, dann tröpfeln alle gleichermaßen erschöpft wie verwirrt aus dem Raum. Hat wirklich eine Debatte stattgefunden?
Die öffentliche Jurydiskussion war ein spannendes Intermezzo klug geschliffener Wortbeiträge; ein Disput war sie nicht. Auch die unterschiedlichen Kriterien, mit denen die Juror:innen hantiert haben, wurden kaum angesprochen. Insgesamt entstand so der merkwürdige Eindruck, die eigentliche Debattenebene sei irgendwie ausgelassen worden. Das Ergebnis ist zwar eindeutig, doch hat der plötzlich geschlagene Haken auf der Zielgeraden irritiert. Man hätte allen Stücken – auch oder gerade den „aussortierten“ – gegönnt, einmal richtig ins Kreuzfeuer der dafür sicher äußerst geeigneten Jurymitglieder zu geraten.