Beeindruckende Offenheit


Diskurs

Er ist 1986 geboren und benutzt eine Schreibmaschine. Wolfram Höll ist entweder hoffnungslos reaktionär, exzentrisches Genie oder jemand mit einem ganz besonderen Verhältnis zur Medialität des Schreibens. Sein neues Stück „Drei sind wir“ besteht aus graugetippten Worten, unregelmäßig verteilt auf 85 Seiten: ein Text, der zuerst einmal – ganz bildlich gesprochen –  angesehen werden will. Denn der Verdacht liegt nahe, dass neben dem Verfasstwordensein auch das Lesen von Hölls Stück als ein Prozess zu verstehen ist, den eindeutige Begriffe von Sprache, Literatur oder Theater nicht fassen können. Welche Hintergründe also hat Wolfram Höll, welche Besonderheiten offenbart sein Stück in der reinen Lektürekritik? Und schließlich: Wie lässt sich dieser Text auf eine Theaterbühne hin denken?

Lyrische Zirkulation

Höll lebt als freier Autor, Hörspielregisseur und -dramaturg in Biel in der Schweiz. Sein erstes Werk für die Bühne „Und dann“ wurde 2014 zum Mülheimer „Stücke“-Wettbewerb eingeladen – den es prompt gewann. Ein nahezu lyrischer Text, der die konventionellen Mittel des Theaters herausfordert und gerade damit für die Beobachter*innen zeitgenössischer Dramatik interessant wird. „Nicht mehr kausal-linear, sondern zirkulierend und verstrickt“, beschreibt der damalige Laudator Wolfram Lotz die Welt, die Hölls Worte entstehen lassen.

Offenes Erzählen

„Drei sind wir“ ist die Geschichte eines Paares, das ein Kind mit einer seltenen Form von Trisomie bekommt. Dass es bald sterben wird, steht fest. Dennoch wandern die Eltern aus und verbringen – mit dem Kind – ein Jahr in Kanada. So klar sich dieser Inhalt erzählt, so indirekt ist Wolfram Hölls Form der Narration: Der Text vermittelt den Eindruck einer fragmentarischen, flüchtigen Dokumentation, in die Dialogfetzen, Kinderreime, Alltagsbeobachtungen und nachdenkliche Satzschnipsel eingestreut sind. Eine Gliederung nach Jahreszeiten (von Frühling bis Frühling) verstärkt den protokollhaften Charakter, zeichnet aber auch nach, inwiefern die auf die Diagnose folgende Erfahrung zirkulär strukturiert ist: eine allumfassende Veränderung, die zugleich wiederkehrend und radikal neu ist. Was als gegensätzlich erscheint, wie etwa der eher monotone kanadische Alltag und die einmaligen Ausflüge und Abenteuer, fließt ineinander, die Grenzen zwischen einem vermeintlichen „Wichtig“ und einem vermeintlichen „Unwichtig“ verwischen. Große Fragen können in kleinen Dingen verhandelt werden. So kann sich dann auch gerade in der nicht geschlossenen Form – Lücken, leere Seiten, vereinzelte Worte, unbeendete Sätze –etwas viel Umfassenderes erzählen.

Während sich sonst leicht überflogene Begriffe wie „hoffen“, „sagen“ oder „wir“ durch ihre ständige Repetition ins Lesebewusstsein einbrennen, scheitert das Streben nach einem erfüllten Familienleben. So sehr Höll wohlbekannte Narrative von Verwandtschaftsbesuchen bemüht – etwas wie Normalität stellt sich im Leben mit einem todkranken Kind nicht ein. Themen wie Gemeinschaft, Ankommen, Loslassen kreisen über dem Stücktext, der voranschreitet, ohne eine Handlung zu haben, Positionen auslotet, ohne Statements abzugeben, und in unendlichen Assoziationen über- und weitergedacht werden kann. Trotz aller Distanz sind Hölls Schilderungen der Erfahrung ungemein präzise. Dabei ist es verblüffend, wie wertfrei sich die komplexe Problematik vermittelt und dabei dennoch berührt.

Lesen oder sehen?

Grau auf weiß gedruckt, mal blasser, mal handschriftlich nachkorrigiert, spielt der Text mit dem Blick der Betrachtenden. Die häufigen Zeilenumbrüche und örtlichen Verschiebungen auf dem Papier erinnern einerseits an den spontanen Versuch, etwas zu notieren, machen andererseits aber auch lyrische Horizonte auf. An einigen Stellen wirkt die Anordnung auf den ersten Blick beinahe wie ein rollen- und dialogbasierter Dramentext – was jedoch spätestens der Verzicht auf Figuren und Sprechanteilzuordnungen zu brechen weiß.

Jegliche Inszenierung ist Interpretation. Ob eine Bühne die besondere Intimität und den Facettenreichtum des Leseprozesses bei „Drei sind wir“ aufgreifen kann oder soll, ist vielleicht ein zu spekulatives Problem. In jedem Fall aber stellt sich die Frage, ob und wie ein Aufrechterhalten der großen Offenheit, die Hölls Text auszeichnet, mit den Mitteln des Theaters gelingen kann. Legt sich die bühnenpraktische Umsetzung stattdessen auf bestimmte Auslegungen, Verbildlichungen fest? Oder kann sie nur in Bewusstmachung der eigenen Einzigartigkeit, in größtmöglicher Loslösung vom Text, einen adäquaten Umgang mit diesem finden? Die Inszenierung des Schauspiel Leipzig wird eine von vielen möglichen Antworten geben.