Von notwendigen Lebenszutaten


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Zu Beginn der Inszenierung müssen die Zuschauer eine halbe Stunde lang stehen – und werden dabei von vier Seiten mit Bildschirmen konfrontiert. Darauf sind vom Ensemble dargestellte US-amerikanische Wissenschaftler zu sehen, die 1966 über die Mondbesiedelung „utopisieren“. Über die Köpfe der etwas ratlos herumstehenden Zuschauer hinweg wird im Anschluss ein Dialog von zwei „Kindern“ gespielt, die 1974 im winterlichen Berlin vergeblich auf ihre Mutter warten. Dann tragen die Techniker des Schauspiels Stuttgart Bänke herein, die zu Publikumsblöcken formiert werden. Auch im weiteren Verlauf des Abends erscheinen an den vier Seiten der Spielfläche immer wieder illustre Bilder aus der Zeitgeschichte: von Klonschaf Dolly über Gasparow beim Schachspiel bis hin zu Bill Clinton. Man ahnt bereits: Die Handlung von Fritz Katers neuem Monumentalwerk zusammenzufassen, ist nicht einfach. Allenfalls lassen sich Leitmotive erkennen: der Traum des Aufbruchs in ein besseres Leben etwa oder das „Blei in den Flügelschuhen“, welches die Protagonisten doch immer wieder am Fortkommen hindert.

Mehr Spiel als Sprache

Die „Stuttgarter Nachrichten“ betitelten die Inszenierung in Anlehnung an den Romancier Milan Kundera mit „Unerträgliche Winzigkeit des Seins“. Unerträgliche Mannigfaltigkeit trifft es vielleicht eher, denn ebenso wie Fritz Kater zwischen dezenter DDR-Nostalgie, West-Tansania und Berlin-Buch mal eben seinen gesamten Bildungsschatz rund um Platon, Thomas Morus, Rabelais, Bartók, Prokofjew und „Faust“ auffährt, präsentiert die „Adaption“ von Armin Petras, welche übrigens in Koproduktion mit den Münchener Kammerspielen entstand, alle nur erdenklichen theatralen Mittel: Choreographien, Tanzeinlagen, Stroboskop-Einsätze, Geschrei, Tränenvergießen, Monologe vom Band sowie orgiastische Gruppenszenen und Perkussions-Exzesse. Inmitten der immensen, eindrucksvollen Bilderfolge und der sphärenhaften Musik von Miles Perkin fragt man sich jedoch oft, wohin dieser Abend gehen mag.

Mehr Sprache als Spiel

Nach der Pause wird das Bühnenbild von einem großen, begehbaren Mammutskelett dominiert; möglicherweise ein Symbol für die „fossil“ gewordene Ehe, die sich nur noch mit der Erinnerung an einstige schöne Tage am Leben zu halten vermag. Immerhin korreliert dieses Urzeit-Ungetüm aber mit den (Plüsch-)Elefanten-Szenen der ersten Hälfte, aus deren tierischer Perspektive im gesamten vierten Teil auch erzählt wird. Gleichwohl ist es über die zweite Hälfte zweifellos die Sprache, die das Spiel überwiegt. Hier stehen sich etwa ein verzweifelter Vater (Thomas Schmauser) und ein renitent-warmherziger Kinderarzt aus Ungarn (Edmund Telgenkämper) gegenüber. Die Vertreibung des allegorisierten Virus und abschließend auftretende Clowns bringen wiederum genrebrechende Performanz und eine kleine Prise Nonsens mit sich.

„Ich möchte dahin, wo ein Kuss noch was bedeutet“, ist eines der eindringlichsten Zitate aus dem Kater-Stück in Petras-Regie; ein weiteres Highlight sicherlich die Szene zwischen den jugendlichen Berlinern (grandios: Svenja Liesau und Max Simonischek), in denen sie zum ersten Mal die westliche Coca-Cola ausprobieren und sich trotz aller Dämlichkeit sehr berührend deren berauschende Wirkung einreden. Die kribbelnde Vorstellung von der Zukunft ist gleichermaßen allgegenwärtig wie Krankheit und Tod.

Die Inszenierung produziert derart viele Eindrücke, Bilder und Assoziationen, dass der Zuschauer am Ende völlig ratlos und etwas geschlaucht auf den überhitzten Holzbänken sitzt. Vermag man sich auf erzähl- wie spieltechnische Dauerschleifen einzurichten und kraftvoll ausufernde Redeschwallen zu lauschen, sollte man die heutige zweite Vorstellung von „Buch (5 ingredientes de la vida)“ keinesfalls versäumen – szenische Hingucker sind gewiss. Wer Konsequenz und dramaturgische Logik sucht, zu den 1960ern bis 1980ern keinen sonderlichen Bezug hat oder empfindlich auf Überlängen reagiert, ist mit dem regelrechten Mammutstück sicherlich falsch beraten.