We have a situation here


Diskurs

Eine Situation. Damit ist die augenblickliche Lage gemeint, in der sich jemand befindet. „We have a situation here.“ Das sagen Figuren aus Agentenfilmen, um auszudrücken, dass sie mit einer Situation umgehen müssen, die fast unlösbar ist. Meistens braucht es dann eine Figur, die sich bis ans Ende der scheinbar verfahrenen Situation durchkämpft, oder aber die Zusammenarbeit eines ganzen Teams, das den Tag doch noch rettet und für ein Happy End sorgt. Auch in „The Situation“ sieht sich ein Einzelner mit einer schier unlösbaren Aufgabe konfrontiert: In der Klasse des Deutschlehrers Stefan begegnen sich Menschen, die aus unterschiedlichen Konfliktherden des Nahen Ostens geflohen sind. In den engen Räumen seiner Deutschklasse in Berlin-Neukölln treffen sie aufeinander – der Clash ist vorprogrammiert. Stefan ist mittendrin und schnell wird ihm klar: Deutsch unterrichten kann er hier nicht. Statt seiner Profession nachzugehen, muss er über die tiefen Gräben zwischen seinen Schülern hinweg vermitteln und Probleme lösen, an denen Menschen sich hunderte von Jahren erfolglos abgearbeitet haben.

Es wird ungemütlich

Ich hingegen sitze gemütlich in meinem gepolsterten Theatersessel und kann mir zunächst ganz bequem anschauen, was auf der Bühne zum explosiven Pulverfass zu werden droht. Mit zunehmender Inszenierungsdauer wird mir jedoch klar, dass sich das Erfahren, Erkennen und nicht zuletzt das (Vor-)Wissen eines Menschen aus seiner Umgebung speist und sein Selbstverständnis determiniert. So scheint mir die Inszenierung plötzlich meinen eigenen (deutschen) Blick auf die Fremde widerzuspiegeln. Und ja: Diese Konfrontation, so sehr – oder gerade weil – sie es in meinem Kopf rauschen lässt, ist wichtig. Die Überforderung des Deutschlehrers, der für das harmonische Miteinander in seiner Klasse kämpft, geht mir nahe. Im Versuch, seine Schüler zueinander zu bringen, gerät er zwischen die Fronten der politischen Konflikte, die jeder einzelne von ihnen mitbringt. So sehr reibt er sich an der Komplexität der politischen Lage und Lager auf, dass er schließlich verzweifelt deklamiert: „Wie kann ich den Konflikt im Nahen Osten lösen?“ Die Zuschauer um mich herum reagieren mit Lachen. Ist es Irritation, Verzweiflung oder Scham? Es hilft nichts. Für mich drückt sich hier doch einmal mehr (deutsche) Handlungsohnmacht aus, die ich auch empfinde.    

Alles vorbei? Nein!

Wie aus der Ferne dringt irgendwann das Geräusch des Schlussapplauses an meine Ohren. Ich verlasse den Saal als einer der letzten. Schwer fällt es mir, einzuordnen, was ich gerade gesehen habe. Es fühlt sich dumpf an. Die Euphorie des Publikums dringt nicht zu mir durch, auch während des Publikumsgesprächs nicht. Auf dem Weg zur Bahn kommt dann langsam wieder etwas. Ich frage mich, ob der ästhetische Ansatz von „The Situation“ – also das reine Abbilden der politischen Konflikte des Nahen Ostens und der (deutschen) Überforderung angesichts ihrer Mannigfaltigkeit und Komplexität – nicht zu kurz greift. Macht es sich das Stück nicht verdammt einfach, wenn es mir und meinen Sitznachbarn da unten all das, also die Überforderung des Deutschlehrers, die Mannigfaltigkeit der Hintergründe, aus denen die Figuren kommen, und die Komplexität der Konflikte, die sie mit nach Deutschland bringen, als einen riesigen, erbarmungslosen Spiegel vorhält?  Auf der Zugfahrt glaube ich, eine Lanze für das Stück und seine Inszenierung brechen zu müssen. Schließlich werde ich ja informiert und gerade durch die „ungemütlichen“ Momente der Inszenierung für das Thema sensibilisiert, unter anderem deshalb, weil ich als Zuschauer, genau wie der Deutschlehrer, ununterbrochen mit dem (mir) Fremden und der daraus resultierenden Überforderung konfrontiert werde: Der Versuch, die Geflüchteten zu verstehen, wird mir als Scheitern vorgeführt. 

Wir müssen reden

Ja, schon, das verstehe ich, aber es bleibt doch die Frage: Welche Handlungspotentiale können daraus erwachsen? Die Figuren jedenfalls handeln kaum – sie reden. Zentrales Element von „The Situation“ ist der Dialog als Medium der (Völker-)Verständigung. Er bedarf eines wechselseitigen Zuhörens und Sprechens. Im Dialog treten ein Eigenes und das, was dieses Eigene als fremd empfindet, in einen Austausch. Für einen gelungenen Dialog muss jeder Einzelne deshalb offen und bereit dafür sein, die eigenen Vorurteile zu hinterfragen. Dunkel erinnere ich mich an einen Text des Philosophen Bernard Waldenfels. Der Dialog hat bei ihm eine Kraft, der in der Lage ist, erdbebengleich auf meine Perspektive einzuwirken. Zuhause angekommen schlage ich nach: „Was so in den Blick rückt, ist das Zwischenreich der Intersubjektivität, des Dialogs, des Mit-einanders.“ Andererseits muss doch aber das Fremde als solches erkennbar bleiben und als fremd wahrgenommen werden, oder nicht? Gleichzeitig frage ich mich: Wenn uns Zuschauern das Fremde als fremdbleibendes veranschaulicht wird, besteht dann nicht die Gefahr, dass Figuren schnell zur reinen (Opfer-)Repräsentation politischer Konflikte instrumentalisiert werden? Vielleicht ist genau das Yael Ronen und ihrem Ensemble passiert.

Es will mir einfach nicht gelingen, das alles zusammenzudenken, eine adäquate Darstellung zu finden. Vielleicht schreibe ich meiner Redakteurin, dass mir die Gedanken entglitten sind. Ich schreibe die ersten Sätze der Mail und gehe Zähne putzen. 

It’s my situation! 

Im Bad starre ich mich im Spiegel an. Und plötzlich kommt mir ein Gedanke. Es ist vielmehr eine Frage: Was ist mit mir? Ja, was verdammt nochmal ist denn mit mir? Trage ich nicht auch einen glühenden Kern von Identität mit mir herum? Was ist damit? Die Frage von Identität stellt sich doch auch jemandem, der seine Heimat nicht verlässt. Also auch mir und all den Zuschauern, die wahrscheinlich längst schon im Bett liegen. Da ist sie – meine Baustelle, meine Situation. Die Frage „Wer bin ich überhaupt?“, sollte sich jeder stellen, und das hat mit der Überforderung durch ein Fremdes und Fremdbleibendes wenig zu tun. Also: Wer bin ich in einer Gemeinschaft, zu der auch all die Menschen eingeladen sind, die die ihre gegen ihren Willen verlassen mussten und so nach Deutschland kamen? Es geht um deine, es geht um meine Identität. Aber wie können wir eine Gemeinschaft bilden, ohne in die Gefahr zu geraten das Fremde vollends (be-)greifen zu wollen, indem wir es auf einen gemeinsamen Grund der Verständigung festnageln? Ich glaube, dass das Medium Theater wie kaum ein anderes diese Frage ganz praktisch stellen kann und stellen muss. 

Zurück zur Utopie!

In einem Artikel der Süddeutschen Zeitung sagt Dimitrij Schaad, der Darsteller des Deutschlehrers: „Vielleicht wäre es unsere Pflicht, Utopien zu entwerfen. Andererseits: Wenn Realpolitiker und Philosophen keine Antworten finden, gelingt es uns vielleicht auch nicht.“ Das Theater muss nach Utopien fragen, und zwar über die Grenze des Guckkastens hinaus: Kann das Theater ein Ort sein, an dem ein anderer Entwurf von Gesellschaft nicht nur gedacht, sondern auch verhandelt und gehandelt wird? Zwischen den in Deutschland Fremden auf der Bühne und uns, dem mit Fremdheit konfrontierten Publikum im Zuschauerraum? Sich allein dieser Frage künstlerisch auszusetzen, trägt einen utopischen Kern in sich. Also? Do we have a situation here?