Zwiegespräch mit Felix Krull


Kritik

„ … in der Tat, sage ich, erschien mir das Theater als eine Kirche des Vergnügens, als eine Stätte, wo erbauungsbedürftige Menschen, im Schatten versammelt gegenüber eine Sphäre der Klarheit und der Vollendung, mit offenem Munde zu den Idealen ihres Herzens emporblickten.“ *

 

So wunderbar poetisch hast Du die Atmosphäre im Theatersaal eingefangen, lieber Felix, und zugleich seine edle Absicht hervorgekehrt. Nirgendwo anders kann man ein derartig versunkenes Kollektiv beobachten, das sich versammelt, nur um bestimmten Worten zu lauschen, sich abgestoßen oder verzückt, in jedem Fall aber beseelt zu fühlen. Erhaben wie ein Tempel – berauschend wie ein Casino.

Geehrt fühl’ ich mich, dass meine Ekstase auch im Jahre 2016 auf Verständnis stößt. Düstere Propheten haben eine Epoche vorausgesagt, die sich nur noch am Elektronischen ergötzt, das Versische verschmäht und Schauspieler allenfalls auf Leinwänden anhimmelt.

Zum Großteil ist dies leider wahr geworden. Regelmäßige Schauspielbesuche machen Dich heute beinah zum Außenseiter. „Komm doch lieber mit ins Kino oder Stadion“, heißt es dann zum Beispiel. Daher gilt das Theater inzwischen als Zufluchtsstätte für hilflose Tagträumer, unbeirrbare Utopisten, Sehnsüchtler und all die anderen, die mit dem Kopf in den Wolken hängen.

Die Welt scheint demnach zu rational geworden …

Zu rational, zu abwägend, zu ich-bemüht und Du-verleugnend; zu versessen darauf, jedwede Erscheinung in Schubladen einzusortieren, zu fixiert auf Zahlen. Zwischen IBAN, BMI, Kilojoule und Aktienindex bleibt nicht mehr viel Zeit für Schiller, Ibsen & Co.

Was wäre die Welt ohne Scheinwelten?

Bedauerlich. Es braucht die geistigen Höhenflüge umso mehr in Zeiten zwischenmenschlicher Einsamkeit. Auf der Bühne findet man sein Geträumtes wieder; so trösten ein paar Stunden des Amüsements stets über den Alltagsverdruss hinweg und helfen, die Stumpf- und Irrsinnigen vergessen zu machen. Was wäre die Welt ohne die zahllosen Scheinwelten, in die abzutauchen uns vergönnt ist?

Wie Recht Du hast. Gleichwohl liegt es mir fern, ein schwarzes Bild meiner Epoche zu zeichnen.

Ein solcher Pessimismus erschiene mir auch gröblich unsympathisch. Mich dünkt, Ihr seid heute aufgeschlossener als wir zu unserer Zeit. Alles macht Ihr zum Diskussionsgegenstande, jedwedes Problem darf Relevanz für sich beanspruchen. Die Welt wurde chaotischer, aber dadurch auch vielfältiger.

Zugegeben.

Allein der Reichtum, in ein und dasselbe Werk, frei von öden Konventionen, verschiedene Sprachen, Ausdrucksmuster und Zeitverschiebungen einzuarbeiten... Zu meiner Zeit gab es solchen Reichtum nicht auf der Bühne. Insofern können sich Eure Wettbewerbs-Stücke mit dem unvergleichlichen Schüttelspeer messen lassen!

Kunst muss sich selbst behaupten

Ich fühle mich geschmeichelt und will meinen Freunden gern davon berichten. Es hat sich einfach – das muss man den Menschen zugute halten – fürchterlich viel verändert in den letzten 100 Jahren: Wenn sogenanntes Entertainment Dir an jeder Ecke begegnet, muss Kunst sich immer wieder selbst behaupten. Es brennt eben kaum jemand mehr darauf herauszufinden, was die Welt im Innersten zusammenhält.

Meinst Du, die Mülheimer Stücketage werden in dieser Hinsicht ein Zeichen setzen? Gebt Euren Herzen einen Stoß und öffnet Euch aufs Neue für das Erhabene, Erbauliche, das Schöne und wahrhaft...

...so naiv – verzeih, schöngeistig – kommt man 2016 vermutlich nicht weit.

Weshalb?

Du musst die Menschen packen mit den Stoffen, die sie umgeben. Die Auseinandersetzung mit diesen Dingen bleibt schließlich unbefriedigend, wenn sie nur übers Fernsehen und andere Bildschirme erfolgt. Das Theater kann Aufschluss darüber geben, was es heißt, heute Mensch zu sein. Und nur hier findet jeder Unterdrückte, jeder Verfolgte und Alleinstehende, kurz: jede Figur, die gerade an diesem Mensch-Sein gehindert wird, eine Stimme und Gehör.

Eine Heimat der Ausgestoßenen?

Warum nicht? Ferner möge Vielfalt als erstrebenswerter Luxus verstanden werden: Von Comedy über flammende Liebesschwüre bis hin zu blutigen Grausamkeiten sollte heute alles auf den Brettern, die die Welt bedeuten, zu sehen und zu bestaunen sein.

Fürwahr, wie ich schon sagte: Das Bunt-Gemischte macht es aus. Doch vergiss nicht: Dem einen ist es zu strapazierend, dem anderen zu trivial – so war und ist es immer fort. Mach es wenigen recht, vielen Gefallen ist schlimm.

Diese heroische Haltung muss man sich leider leisten können. Bleiben die Reihen durchweg leer und die Schreiberlinge unzufrieden, nimmt es kein gutes Ende mit dem, was Du so liebst. In Zeiten chronischer Geldknappheit sowieso.

Gewiss. Verliert der theatrale Zauberkasten seine Verbindung zum gemeinen Menschenschlag, verliert er früher oder später auch seine Daseinsberechtigung. Aber schau: Moneten zum Fenster hinauswerfen für die „falschen“ Dinge konnten Menschen schon immer.

Haha, beruhigend zu hören.

Im Theater nach dem Himmel greifen

Und wir kommen durchaus überein mit unseren theatralen Vorstellungen. Ob Lustspiel oder Tragödie, Posse oder gewichtiges Drama: Alles soll gezeigt werden, doch jedes einzelne stets sein Einmaliges, Unverwechselbares mit sich bringen.

Immer wieder neu wird die Menschheit dazu aufgerufen, sich als solche zu begreifen. Die Produktion "The Situation" fragt zum Beispiel mit einer feinen Prise Humor, ob „verfeindete“ Staaten und Religionen in ein neues friedliches Miteinander gebracht werden können ...

Recht hast Du. Im Theater soll es möglich werden, nach dem Himmel zu greifen...

Ja, das Bedürfnis, sich mitreißen zu lassen ist wohl, damals wie heute, der beste Anlass, ein Theater aufzusuchen. Und die Neugier stirbt zum Glück nicht aus unter den Menschen. Ich persönlich glühe bei Stücken wie Bilder von uns vor Zuversicht für das jetzige Theater:

Hier werden gesellschaftlich sensible Themen facettenreich und schonungslos ehrlich zur Schau gestellt.

Versucht also Leidenschaft zu verbreiten, doch zwingt sie niemandem auf; schlagt die Werbetrommeln, doch insistiert nicht; betont Eure Einmaligkeit, doch meidet stümperhafte Arroganz.

Gute Ratschläge! Durch öffentliche Debatten, hintergründige Beiträge und, last but not least, die Vergabe des Publikumspreises versucht man hier in Mülheim, „anfassbar“ und mitreißend zu bleiben.

Ein überaus lobenswertes Vorgehen. Nicht zuletzt ist das Theater ja auch ein hübscher Ort, sich zu zeigen – nach wie vor, wie ich denke.

Nun ja, das „Feinmachen“ ist nur noch bei Premieren oder in Düsseldorf relevant. Ansonsten lässt sich über das Schauspielpublikum von heute vielleicht dasselbe wie über unser Repertoire sagen: Bunt gemischt – alles dabei.

Dies halte ich für wertvoller als ein ewig homogenes Publikum. Indes scheint mir, das Entscheidende hat sich kaum verändert. Froh bin ich, dass nicht mehr allzu schlecht Du denkst.

In der Tat erscheint mir das Theater als Brücke über Zeiten und Konventionen. Was Menschen zu Tränen rührt, sie schaudern lässt und zu lautem Lachen hinreißt, muss seine Existenz nicht rechtfertigen. Unsere Gesellschaft sehnt sich nach Antworten, nimmt sich aber kaum Zeit, erst einmal Fragen zu stellen. Ich könnte mir vorstellen, dass die „Stücke 2016“ versuchen werden, das zu ändern.

 

* Mann, Thomas: Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/Main 1989, S. 28.