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In Mülheim in den Alpen: Jelineks Werk


Rede zur Verleihung des Mülheimer Dramatikerpreises 2004 an Elfriede Jelinek
von Tilman Raabke

Mit dem Werk gehören wir offenbar in eine besondere Landschaft. "Wir leben in einer Welt, die auf der einen Seite durchaus einer Werkstätte, auf der anderen durchaus einem Museum gleicht. Der Unterschied zwischen den Ansprüchen, die diese beiden Landschaften stellen, ist der, daß niemand gezwungen ist, in einer Werkstätte mehr als eben eine Werkstätte zu sehen, während in der musealen Landschaft eine Erbauungsstimmung herrscht, die groteske Formen angenommen hat. Wir haben eine Art des historischen Fetischismus erreicht, die zum Mangel an Produktionskraft in einem direkten Verhältnis steht. Es ist daher ein tröstlicher Gedanke, daß irgendeiner geheimen Korrespondenz zufolge der Ausbau großartiger Zerstörungsmittel gleichen Schritt mit der Aufspeicherung und Konservierung von sogenannten Kulturgütern hält." Und der Autor fährt wenige Sätze später fort: "Dies macht den Akt einer totalen Mobilmachung erforderlich". Das Zitat ist von 1932. Sie alle kennen den berühmten Autor, mindestens dem Namen nach. Auch in Elfriede Jelinkes Werk tritt er sogleich zu Beginn "vor den Vorhang", wenn er sich denn ihrer Szenenanweisung, ihrem imaginären Inspizientenruf überhaupt fügt. Anscheinend soll er hier, vor dem Vorhang, nichts zu verbergen haben. So was wird ihm nicht gegönnt. Aber was macht er dann? Ich weiß es nicht. Elfriede Jelinek weiß es, glaube ich, auch nicht. Sie hat nicht mal notiert, wann er denn endlich abgehen soll. Andere sind ja auch noch immer noch da.

Das Werk also. Dies Theaterstück von Elfriede Jelinek gehört zu der Trilogie In den Alpen. Jedenfalls, wenn man der Buchausgabe trauen will. Im Theater merkt man ja von solchen Textverhältnissen gar nichts. Das Theater verbirgt sie uns, wahrscheinlich, weil es sie gar nicht darstellen kann. Das Theater kann das einfach nicht. Oder? – Also: die Alpen-Trilogie. Drei Dramen: 1. In den Alpen, 2. Der Tod und das Mädchen III (Rosamunde), dieser zweite Teil hier ist gleichzeitig der dritte und letzte Teil der Prinzessinnendramen von Elfriede Jelinek, bildet hier eine Art Wurmloch oder Gelenkstück zu einer ganz anderen Trilogie, auch sehr seltsam eigentlich, und 3. Das Werk.

Und für dieses Drama Das Werk hat Elfriede Jelinek eben jetzt, 2004, den Mülheimer Dramatikerpreis bekommen. Bereits 2002, erst zwei Jahre her, war sie ja auch schon mit diesem Preis ausgezeichnet worden. In den früheren Jahren hatte es sich dagegen nicht so sehr gehäuft. Wenn man sich an die Geschichte dieses Dramatikerpreises erinnert, ohne dabei gleich in eine "Art des historischen Fetischismus" zu verfallen (Sie denken doch alle noch an das Zitat von vorhin, oder?), dann bekommt man das Gefühl, daß sich in der Reihe der zu den Mülheimer Theatertagen Eingeladenen, sogar noch in der engeren Reihe der 28 bisherigen Preisträger, durchaus die deutsche Theatergeschichte in groben Zügen widerzuspiegeln scheint.

Erstaunlich, wie fern jetzt deren Anfänge ab 1976 scheinen. Noch keine so gute Zeit für Gegenwarts-Dramatiker vielleicht, die es natürlich, wie immer, gab. Aber das Theater hatte damals, notwendigerweise vielleicht, noch andere zentrale Arbeitsziele. Außerdem hatten wohl die klügsten Leute der Republik damals noch ein paar andere Dinge im Kopf, als unbedingt nur Stücke für das deutsche Stadttheater zu schreiben. Vergessen Sie bitte nicht, daß auch Elfriede Jelinek in dieser Zeit fast zehn Jahre lang ausschließlich in der allerschönsten unserer Landschaften beheimatet war, in der weitesten und mit Abstand der freiesten Landschaft, die wir haben, nämlich in der deutschsprachigen Prosa (womit man, einfach mit einem falschen Wort, eigentlich die Epik meint).

Erst 1979 schrieb Elfriede Jelinek ihr erstes Theaterstück, die Nora. Wurde nach der Clara S. mit ihrem dritten Stück, dem Burgtheater, 1986 zum ersten Mal nach Mülheim eingeladen. Ein Jahr später mit Krankheit. Und noch immer hält man den Atem an vor den Sätzen, die sie damals geschrieben hat. Eine Passage aus der Clara S.: "Das Universum der Tonkunst ist eine Landschaft des Todes. Weiße Wüsten, Eis, gefrorene Flüsse, Bäche, Seen! Riesige Scheiben Arktis, durchsichtig bis zum Grund, keine Tatzenspur des Raubtiers Eisbär. Nur geometrisch angeordnete Kälte. Schnurgerade Frostlinien. Totenstille. Alle zehn Finger kann man stundenlang dagegen pressen, und das Eis zeigt keine Spur eines Abdrucks."

Und dennoch: Plötzlich passierte etwas ganz Seltsames. Erstaunlich, wie auch an der Reihe der zu den Mülheimer Theatertagen Eingeladenen sich deutlich, sagen wir: ab 1992/93, eine andere Realität abzeichnet. All das, was vorher war, auch wenn es bei Jelinek und anderen eine Fülle solcher Passagen gab, die in keiner Weise verstaubt oder eingerostet oder öde und schal wirkten, – all das schien plötzlich zusammen mit all diesen unvergessenen Schönheiten dennoch als das eine Gebilde einer anderen und viel ferneren Gegenwart in die Vergangenheit zurückgesunken zu sein. Und gleichzeitig wurde man bedrängt und überfallen von dem aufregenden Eindruck, da würde unsere jetzige Gegenwart begonnen haben. Die neue Realität nicht nur eines irgendwie anderen Theaters, nicht nur einer irgendwie anderen Dramatik, sondern darüber hinaus vor allem die neue Realität einer offenbar viel zentraleren Funktion der Gegenwarts-Dramatik für die Aufgaben des Theaters, wie es sie in dieser Weise seit vielen Jahrzehnten nicht mehr gegeben hatte.

Traurig bleibt natürlich, wenn man diese Geschichte unserer Gegenwart an den Annalen der Mülheimer Theatertage abliest, daß es auch manchen gibt, der nicht einmal eingeladen wurde. Dagegen ist es wirklich hochkomisch, wie die Jelinek in diesen Jahren in Mülheim anwesend war. In den zehn letzten Jahren von 1993 bis 2003 war sie, sage und schreibe, sieben Mal eingeladen worden, sie war also praktisch ständig dabei, man mußte sozusagen nur ganz in Ruhe in Mülheim an der Ruhr sitzen bleiben und konnte so mühelos die Entwicklung des Jelinekschen Dramen-Werks als das stetige Vorbeifließen eines einzigen Sprachstroms über die Jahre hinweg verfolgen. Und das waren ja schließlich alles Theater-Arbeiten, die immer wieder ganze Ufergebiete, Landschaften eröffneten. Und zwar immer wieder durch die Anstrengung eines immer neuen Widerstandes (der ja auch irgendwie zum Strom gehört). Heiner Müller sagte damals: "Was mich interessiert an den Arbeiten von Elfriede Jelinek, ist der Widerstand, den sie leisten gegen das Theater, so wie es ist." Das Theater mußte, wollte und, glücklicherweise, konnte auch darauf reagieren. Der Realitätswechsel, der sich im deutschsprachigen Theater seit 1992/93 niederschlug, ist ohne Elfriede Jelinek nicht denkbar. Alles war also großartig. Nur: Ein Mülheimer Preis fiel irgendwie nie dabei ab. Erst 2002 dann endlich für Macht nichts. Und jetzt eben für Das Werk. Das Vorteilhafte, wenigstens für uns, an dieser Situation: Gerade durch die zeitliche Nähe der beiden Preise wird die weite Spannkraft der Jelinekschen Arbeit deutlich, denn beide Texte sind eigentlich vollkommen inkommensurabel.

Macht nichts heißt im Untertitel Eine kleine Trilogie des Todes, und man kann, wie schon Stefanie Carp gesagt hat, die Figuren der drei Teile als Repräsentanten der Familie überhaupt lesen. Die Mutter, das Kind (in diesem Fall ein Mädchen), der Vater. Dementsprechend blieben sie in Jossi Wielers Inszenierung, wie bizarr entworfen auch immer, eigentlich doch deutlich in den Zwangszusammenhang einer bürgerlichen Kleinfamilie eingespannt. Auch hier ist Jelineks Sprache, wie überall in ihren Textlandschaften, verstörend grenzüberschreitend, aber es scheint, als hätten die Figuren in ihren Verzweiflungs-, Wut-, Flucht- und Ausflucht-Reden beständig neben allem anderen auch noch diesen einen imaginären Partner dabei (bei sich, aber gerade deshalb: ohne bei sich sein zu können), gegen den sie unsichtbar anreden und anrennen. Wenn man denn den familialen Zwangszusammenhang überhaupt einen Partner nennen dürfte. Die Inszenierung jedenfalls sah dem Text, zu Recht glaube ich, den Familien-Schatten Ibsens an. Und Ibsen Schatten sagte, als ob er noch zur Familie gehören würde, allen Figuren, wo sie wirklich standen. Nämlich nie da, wo sie eigentlich stehen sollten. Oder wollten. Pech gehabt.

Ganz anders im Werk. Mit Klugheit hat Nicolas Stemann in seiner Inszenierung gleich am Anfang deutlich gemacht, daß es einen ähnlichen, einen auch nur im Entferntesten dem Familienbürgerlichen vergleichbaren Realitätsrahmen für dieses Werk gar nicht geben kann, nicht geben soll und darf, und daß die Schauspieler und die Zuschauer auch gleichzeitig wie ein einzelner oder ein ganzes Volk von einem ungeheurer Textwassersturz bedroht werden. Das Werk ist wirklich maßlos. Es ist, ich gebe es zu, mit Abstand der mir fremdeste aller Jelinek-Texte überhaupt, zugleich der bedrohlichste, eine Zumutung. Was wird einem da zugemutet? Ich fürchte, man muß sagen: Hier spricht auf furchtbarste Weise das Politische selbst. Umso schlimmer, wenn es so wäre. Noch schlimmer allerdings, wenn es sich sogar um das politische Selbst handeln würde.

Im ersten Teil der Alpen-Trilogie, In den Alpen, ging es um das furchtbare Gletscherbahnunglück von Kaprun, bei dem am 11. November 2000 auf furchtbare Weise 155 Menschen zu Tode kamen. Nicht etwa um die unmittelbare oder irgendwie sensationelle Darstellung dieses Unglücks ging es dabei, sondern – durchaus nach der alten Lehre der griechischen Tragödie – um die vernünftige Vergegenwärtigung von erlebtem, miterlebtem Furcht und Schrecken, um sich von ihnen heilen zu können. So, wie es die Göttin Athena am Ende der Orestie des Aischylos, in den Eumeniden fordert: Recht zu sprechen über vergossenes Blut.

In Das Werk dagegen ist das Unheil nicht mehr an einen Unglückstag, an eine umrissene Katastrophe eingeschränkt und gebannt. Die These dieses Textes, daß das gewaltige Speicherkraftwerk von Kaprun, ein Glanzobjekt für den österreichischen Nationalstolz der Wiederaufbauzeit, hartnäckig die Toten verbirgt, die seine Produktion zumal im Nationalsozialismus gekostet hat, läßt sich nicht mehr an einer Katastrophe dingfest machen, somit eingrenzbar, sondern erscheint hier als so derart allgemeiner wie ungreifbarer Befund, daß er wie das im Werk endlos beschriebene Wasser tatsächlich überallhin zu dringen scheint. Erinnern wir uns daran, wie böse und unwahr vorhin Ernst Jünger gesagt hatte: "ein tröstlicher Gedanke, daß der Ausbau großartiger Zerstörungsmittel gleichen Schritt mit der Aufspeicherung hält." Ich kenne keinen Text, in dem die Angst, die Verzweiflung und die Wut über die Zerstörungskräfte, die die Produktion begleiten, so ins Innerste hineingesickert sind, wie in diesen Text von Jelinek. Ein Text, der so von der Bewegung eines rastlosen Sprechens heimgesucht, durchsetzt ist, daß man (ganz anders als in der Clara S.) kaum ein einziges Prosa-Stück als Zitat herauslösen kann. Ich habe eigentlich nur einen einzigen Satz gefunden. Und der lautet bezeichnenderweise: "Wir arbeiten gegen uns." Sie merken es: Über die Geschichte des Speicherkraftwerks von Kaprun berührt Elfriede Jelinek mit Das Werk eins, wenn nicht das Zentralthema der Moderne schon des 19. Jahrhunderts: das Sich-Entraten des produktiven Menschenwesens. Offenbar so verstörend wahr, daß am Ende, wenn die toten Mütter plötzlich sehr klar reden, ich mich nicht mit der harten Diagnose, die Toten wüßten es halt besser, beruhigen möchte. Sondern vor mir selber erschrecke, wie sehr es mich zu den wirren Strudeln des Anfangs zurückzieht.

Der kritische Bürger Aischylos hatte die Göttin Athena in der Orestie fordern lassen: Recht zu sprechen über vergossenes Blut. Der Dichter Aischylos hatte dabei natürlich mitgedacht: recht zu sprechen über vergossenes Blut. Und das hätte er ja gar nicht tun müssen. Vergessen wir nie, daß die Kunst eine vollkommen unerklärliche Erfindung ist, sich nämlich nur der Lust der Freiheit verdankt. Da kommen manchmal welche, seltsame Menschen auch, und die wissen dann plötzlich, meistens schmerzhaft schön, was die Aufgabe der Kunst ist und wie sie diese Aufgabe immer wieder neu löst. Beglückend, das mitzuerleben. Liebe Elfriede, vielen Dank.

 


Tilman Raabke hielt diese Rede im Rahmen der Feierstunde zur Preisverleihung am 20. Juni 2004 in Anwesenheit der Preisträgerin Elfriede Jelinek