“Wir werden in Erde begraben und dann wachsen uns Blumen aus dem Bauch”. Tag drei der Mülheimer KinderStücke 2012
Das Theater für junges Publikum
Geschrieben von: Nicole von Horst
Donnerstag, den 24. Mai 2012
Ein Mensch stirbt, andere bleiben zurück. Und das Kindertheater? Das lotet 2012 in Mülheim aus, was diese Lücke mit Familien macht, wie Kinder mit Verlust und Vermissen umgehen. Gleich drei von fünf Stücken thematisieren den Tod naher Angehöriger, in Katrin Langes "Freund Till, genannt Eulenspiegel" den Mord am Vater, in "Zur Zeit nicht erreichbar" von Petra Wüllenweber den Unfalltod der Mutter, bei Jens Raschke "Schlafen Fische?" den Krankheitstod des kleinen Bruders. Obgleich alle drei Stücke nicht von denen handeln, die sterben, sondern gemeinsam haben, sich auf die Perspektive der Übriggebliebenen und den Umgang der Kinder mit dem Verlust zu konzentrieren, besetzen sie sehr unterschiedliche Schwerpunkte.
Für Till ist die Auseinandersetzung vor allem ein Akt der Rebellion, das Vermissen auch der Wunsch aus Gefangenschaft zu geraten, mit Scherzen als Widerstand gegen den Mörder des Vatervorbilds. Till stellt andere Fragen zum Tod als die Kinder der Stücke Raschkes und Wüllenwebers, für die wichtig ist, ob sie schuld sind, ob es gerecht ist, wo Mama und Bruder sich befinden (als Wolke, Engel, Stern im Himmel?), was nach dem Tod mit Menschen passiert. Besonders Jette aus "Schlafen Fische?" stellt diese Fragen und erzählt ein Jahr nach dem Tod ihres Bruders mit großer Neugier, Faszination und Anteilnahme vom Sterben. Sie zählt auf, wie Menschen sterben und präsentiert einen von Normalität und Akzeptanz geprägten Umgang mit dem Tod. "Es gibt Menschen, die sterben und keiner merkt es und es gibt Menschen, die sterben und alle regen sich auf. Es gibt Menschen, die sterben mit Taucheranzug und Flossen an den Füßen. In einem Jahr sterben in Japan zehn Menschen, weil sie mit ihrem Kopf beim Begrüßen aneinander dotzen." Wenn sie sich selbst mit Blick fest zum Publikum fragt "Gibt es das, Menschen, die niemals sterben?" reagieren die Kinder darauf überzeugt mit "Neeeein!" und das ist sehr in Ordnung: "Was ich sagen will. Alle Menschen sterben einmal. Wurm für Wurm für Wurm."
Menschen sterben und werden vermisst. Wenn Menschen sterben, schmerzt das die, die nicht gestorben sind, mehr als die, die nicht da sind? Woher wissen wir das? Und wenn uns Würmer fressen, weil auch wir Nochnichtgestorbene mal sterben, tut das weh? Kann man was dagegen tun? Ist es nicht vielleicht schöner, sich vorzustellen, wie wir alle von Würmern gefressen werden, die irgendwie in den Bauch eines Fisches geraten, in dem wir dann schlafen können?"
Das ist eine Möglichkeit mit der Lücke umzugehen, die der Tod eines nahen Menschen schafft. Aber wie wird diese Lücke in den Kinderstücken eigentlich gezeichnet, wie das dargestellt, das gar nicht mehr da ist?
Bei Wüllenweber in der Tat so, dass da eine fehlt, auf eine Weise fehlt, als hätte sie vorher kaum am Leben der anderen teilgenommen. Raschke hingegen gelingt es gut, zu zeigen, dass da einer fehlt, der sich vorher im Leben derer befand, denen er jetzt fehlt. Ohne den Fokus von Jette wegzulenken, und zwar indem er sie einfach erzählen lässt, wie sie des Bruders Leben und Sterben erlebt hat, was das wie mit ihr zu tun hat. Auch die Trauerarbeit in beiden Stücken unterscheidet sich. Das liegt zum Einen daran, dass ein Tod sehr viel weiter zurückliegt als der andere, dessen Zeuge das Publikum wird. Der Tod der Mutter in "Zur Zeit nicht erreichbar" passiert plötzlich, niemand ist darauf eingestellt, hat sich damit auseinandergesetzt. Der Tod des leukämiekranken kleinen Bruders war vorauszusehen, Thema in der Familie, etwas, mit dem man rechnen konnte, wenn auch nicht wollte. Jette und ihre Eltern werden mehr Gelegenheit gehabt haben, sich Ressourcen zu beschaffen. Trotzdem greifen beide Familien am Ende des Stücks als "Lösung" auf das gleiche Mittel zurück, nämlich den Vorschlag, eine Selbsthilfegruppe zu besuchen. Das gibt Stücken, die berühren können, die Identifikationsraum bieten, die kunstvoll und herzlich sein können, den Anschein, ein pädagogischer Ratgeber zu sein und wirkt, nachdem wir zum Beispiel einen ernsthaften Blick auf Jettes Traurigkeit werfen konnten (sie zum Schluss so weint, dass die Kinder nicht lachen, sondern höchstens flüstern) eher schal. Mit Zusätzen wie "das tut mir gut" klingt es zu sehr danach, zum Ende des Stückes ein Problem lösen zu wollen, das so nicht zu lösen ist. Menschen bleiben gestorben, das ist und bleibt traurig, und es ist in Ordnung, damit eine ganze Weile nicht klarzukommen, für Erwachsene und für Kinder. Solange die Geschichten aus dem Leben und vom Tod der Gestorbenen erzählt werden können, über Selbsthilfegruppen hinaus, die Toten Platz im Alltag finden und nicht vergessen werden, obwohl sie eine Lücke hinterlassen haben.