Fisch frisst Wurm frisst Junge. Tag drei der Mülheimer KinderStücke 2012
Das Theater für junges Publikum
Geschrieben von: Marie-Hélène Nille-Hauf
Donnerstag, den 24. Mai 2012
Ein Scout-Rucksack hängt an der Rückenlehne einer Parkbank, von gelb-bräunlichen Blättern aus Plastik umgegeben. Drumherum turnt die braunhaarige Schauspielerin Bettina Storm. Sie wirft die Blätter aus ihren Armen heraus, baut sich aus ihnen einen Fluß inklusive Staudamm, lässt ein einzelnes Blatt zur Sonne werden und erklärt mit den Blättern das zweistellige Alter der von ihr gespielten Figur Jette, zehn Jahre alt. Sie kommt regelmäßig auf diese Parkbank, die ist räumlicher Mittelpunkt der Pop-Up Bühne, die aus einem eingegrenzten, weißen Bodenfeld und einer Rückwand mit Waldalleenmotiv besteht. Darin befinden sich eine Tür plus einem Fenster, sowie ein metallener Abfalleimer, inklusive einer leeren Zigarettenschachtel und massenhaftem Plastiklaub. Alle weiteren Spielgegenstände bringt Jette selbst in ihrem Scout-Rucksack mit, holt daraus zum Beispiel die von ihr selbstentworfene Action-Figur „Superpizzalieferboy" heraus und erzählt dem Publikum, wie sie mithilfe dieser Actionfigur ihren an Blutkrebs erkrankten, jüngeren Bruder (mit seiner Vorliebe für Pizzas) aufzuheitern versuchte.
In Form eines Monologs erzählt der Text, geschrieben vom Autor und Regisseur des Stückes Jens Raschke, von der Auseinandersetzung eines jungen Mädchens mit dem Tod durch das Abbleben ihres eigenens Bruders. Ein großer, philosophischer Monolog zwar, der die länger anhaltenden Konsequenzen eines Todes sogar am Beispiel einer jung sterbenden Kinderfigur, die Rezipienten sind ungefähr gleichalt oder älter, aber nah und ernsthaft heranholt. Mit schnellen Wechseln zwischen subjektiven Wahrnehmungsbeschreibungen der Situation Jettes, ihren eigenen Überlegungen dazu und Gefühlen, bietet er der Schauspielerin die Möglichkeit zu einer sensiblen, engagierten Darstellung. Dieses bündig anschließende Spiel der quirrligen, wissbegierigen Figur Jette treibt den Text voran, unterhält und führt die Zuschauer durch die Zeit vor dem Tod des Bruders, sogar noch darüber hinaus. Aber vielleicht könnte sich die Inszenierung in der Mitte der Aufführung für die einzelnen Elemente mehr Zeit lassen, um deren eigene Potentiale auch in ruhigen Momenten zu Wort kommen zu lassen.
Der Text unterstützt die dialogischen Sequenzen zwischen Jette und den sie umgebenden Menschen; ihrem Bruder, den Eltern, Onkel, Schulkameraden und Lehrerin. Sobald der Text dialogische Stellen vorgibt, benutzt die Schauspielerin Storm eine szenische Tätigkeit für Jette, um dadurch auf spielerischer Ebene eine erleichternde Differenz zwischen Jette und einer weiteren Person zu schaffen. Spiel und Text arbeiten zusammen.
Auf dem Boden sitzend, blättert sie in ihrem Schulblock und kritzelt einzelne Worte aus dem Gespräch mit ihrem Vater in den Block hinein. Sie fragt, „woher er so sicher sein könnte, dass ihr toter Bruder Emil nun keine Schmerzen mehr habe. Was mit dem Körper passiere, sobald er zwischen der Erde auf dem Friedhof liege, ob dann aus den Bäuchen heraus Blumen wachsen würden?" Auf die Antwort des Vaters „Würmer zerfressen die Körper langsam" reagiert sie schockiert und springt vom Boden auf um dem Publikum ihr Heft mit Antiwurm-Strategien (mithilfe von Antiwurmgift oder Stahlanzug könnten die Würmer nicht an den eigenen Körper herankommen) zu zeigen. Aber das Eintreten des Todes könnte man auch dadurch dann doch nicht verhindern. Oder gibt es etwa „Menschen, die niemals sterben?". Obwohl innerhalb der monologisierenden Textform diese Frage an Jette selbst gerichtet ist, reagieren die Kinder im Publikum mit einem lautstarken „NEIN". Die Kinder reagieren auf die vielfältigen, fantasievollen Spielhandlungen der Schauspielerin an einigen Stellen der Aufführung mit leichtem Nicken, Aufschnauben oder „Kenn ich, das mach ich auch so".
Ein sich wiederholender Teil des Textes besteht darin, dass Jette aufzählt, auf welche (auch unwahrscheinlichen) Arten Menschen überhaupt sterben könnten; „Es gibt Menschen, die sterben mit Taucheranzug und Flossen an den Füßen. Auf dem Klo. Mit dem Finger im Toaster. Einem blutenden Loch im Bauch. In einem Jahr sterben in Japan zehn Menschen, weil sie mit ihrem Köpfen bei der Begrüßungen gegeneinander stoßen." Aber anstelle einer bloß erzählerischen Information dieses Sammelsuriums an Anekdoten der Bestatterbranche, spielt Storm zwischen den einzelnen Sätzen subtil clownesk und unterhaltend leicht den gestorbenen Japaner, Taucher und Ermordeten. Diese Spielhaltung und im Text verankerte Möglichkeiten der Identifikation mit Jette (die Mädchen im Publikum schauen sich verschwörerisch an als der Name Justin Bieber im Text fällt) ermöglichen im letzten Viertel des Stücks eine Fallhöhe für eine neue Art der Auseinandersetzung Jettes mit dem Tod. Sie findet ihre eigene Weise des Weitermachens heraus: „ Meine Wolken werden schon heller. Ob sie irgendwann wieder ganz weiß werden, ich weiß es nicht, müssen sie vielleicht auch gar nicht." Weiße Wolken auf Kinderbildern sind kein Indiz für die Verarbeitung eines Verlusts, eine bleibende Traurigkeit in grau gemalten Wolken sollte weiterhin sichtbar bleiben dürfen.