Deutsche Lebenslügen
Wie davon erzählen, vom vermeintlichen Ankommen als Arbeitsmigrant*innen-Kind im bundesdeutschen Wohlstandswesten? Vom Sich-Heraufschwingen in den Kronleuchter der Wunschexistenz, die doch immer gefährdet bleibt? Von den Erinnerungen an die dauergestresste Mutter, die von Niedriglohnjob zu Niedriglohnjob hetzen musste, nie Zeit für sich hatte, das Kind während der Putzschichten irgendwo mit einem Malblock geparkt? Von den Deutschen, die durch sie hindurchgesehen haben? Wie davon erzählen, wenn man keinen Leidenskitsch verbreiten will, nicht in die Klassismusklischees rutschen will, keinen ‚Working-Class-Erinnerungsporn‘ schreiben will?
Ewe Benbenek weiß als Autorin und Literaturwissenschaftlerin viel zu viel über sich, ihre Herkunft, die Welt und das Schreiben, um sich mit einem vermeintlich authentischen autofiktionalen Text zu begnügen. In den 1990ern in der niedersächsischen Provinz aufgewachsen, wohin es ihre Eltern aus Polen verschlagen hat, kennt sie die Spiele der (un)sanften Diskriminierung und Ausgrenzung, die Abstände, die zu überwinden waren bis zu Abitur, Studium und einem Ankommen, das dennoch ein dauernder Struggle bleibt. „Wie soll ich das jetzt erklären“, heißt es unvermittelt nach knapp der Hälfte von „Juices“.
Die Antwort ist ein mäandernder Bewusstseinsstrom, verteilt auf drei Stimmen, durchsetzt mit mehreren Sprachebenen – Umgangssprache, Schriftsprache, einfache Tun-Sätze, Neologismen, eingestreute Anglizismen, herbeizitiertes Beamtendeutsch. Der Sprachfluss arbeitet sich durch fünf, sechs Situationen, beginnend bei Anfangsgestotter, übers prekäre, absturzgefährdete Hängen an einem „Czandelier“, dem Landen in einem billigen Entspannungsschaumbad, eingesprengten Kindheitserinnerungen, dem bald von mehreren Entspannungsbierchen erleichterten ewigen Warten an einem Bahnhof bis zu einem sommerlichen Wochenende am Badesee, immer durchzogen von Abschweifungen und Selbstreflexion, Fragen an sich und andere.
Am Ende mündet der Sprachgedankenstrom in eine Wutrede, wird der „BRD“ die Rechnung präsentiert für ihren Hochmut und ihren Selbstbetrug, man hätte alles aus eigener Kraft erreicht: die deutschen Lebenslügen vom selbstgezogenen Schlussstrich nach Krieg und Nazidiktatur, vom vergessenen Marshall-Plan, den missbrauchten „Gastarbeitern“ bis zur verlogenen Europabegeisterung über den Schengenraum 2004, als man wie schon zu Preußens Zeiten wieder billige Arbeitskräfte „ganz legal“ aus Osteuropa holen durfte.
Da münden schließlich die vielen Perspektiven aus den drei Ichs, ihren Stimmen und Gedanken in einen Fluchtpunkt: die zwei sehr verschiedenen Geschichten von West- und Osteuropa und die Frage, was denn das für eine Solidarität sei, wenn sie nur einigen ausgesprochen wird und anderen nicht.
Und der Titel? „Juices“ sind „all die Flüssigkeiten (…) / die aus uns selbst kommen“, sprich Tränen, Schweiß und Angst. Englisch klingt es nicht so pathetisch, meint aber dasselbe.
Franz Wille