Ein Königreich für eine gute Story
Ödipus, der antike König, der ahnungslos zum Vatermörder wird und seine eigene Mutter ehelicht, ist uns allen bekannt – und das nach ihm benannte Muster, der Freud`sche Ödipus-Komplex, längst fester Bestandteil jedweder Küchenpsychologie. Was aber wissen wir eigentlich über das Mordopfer, Ödipus’ Vater Laios?
Roland Schimmelpfennig schließt mit seinem gleichnamigen Stück, das als Teil eines großen Antikenzyklus in der Regie von Karin Beier am Hamburger Schauspielhaus entstand, freilich weit mehr als eine schlichte Wissenslücke. Er schickt eine Erzählstimme in die Spur, die Hypothesen durchspielt und verwirft, Gedanken wieder und wieder überschreibt und mit ihrem bestechenden Arsenal fiktionaler Mittel aus der Antike heraus en passant eine ganze Weltgeschichte skizziert. Ohne Pathos und Zeigefinger treten mit Laios` Geschichte die großen Menschheitsfragen auf den Plan: Macht und Schuld, Demokratie und Verantwortung, Schicksal und Aufklärung.
Wann hat die Geschichte eigentlich angefangen? Schon hier vermeidet die Erzählstimme jedwede Festlegung: „Es ist noch früh am Tag“ beginnt Schimmelpfennigs Text, „vielleicht ist es / erst kurz nach Sonnenaufgang, // vielleicht ist es / aber auch schon Mittag, // oder es ist schon spät am Nachmittag (…)“ Dieser Einstieg benennt gleichzeitig das Gestaltungsprinzip des Textes – der so die Freiheit gewinnt, die Knackpunkte der Geschichte mit immer neuen Möglichkeiten zu umkreisen: Haben Laios und Iokaste überhaupt tatsächlich einen Sohn bekommen – oder war es vielleicht eine Tochter? Lässig wird vor- und zurückgespult in der Story, werden jene Momente, die sich später als richtungsweisend für ganze Weltläufe herausstellen sollen, wieder und wieder anders durchgespielt. Selbst die historischen Zeiten können hier mit einem Zungenschlag wechseln: Gerade noch stabil in der Antike verankert, sitzt Laios im nächsten Satz schon „unten am Bahndamm“, um sich herum die jugendliche Clique aus Kreon, Teiresias und Co., neben sich „Badesachen, Zigaretten, Bier“. Oder der alte Ochsenkarren ist einen Halbsatz später schon ein Auto – und auf Insta flattern die Haare im Wind. Nicht zuletzt schafft Roland Schimmelpfennig hier auch eine ganz eigene Form der Antiken-Überschreibung, die zurzeit ja Konjunktur hat in der Gegenwartsdramatik.
In der kongenialen Solo-Performance der Ausnahme-Schauspielerin Lina Beckmann wird aus „Laios“ ein furioser Abend über das Erzählen selbst, der neben den Mülheimer Theatertagen auch zum diesjährigen Theatertreffen nach Berlin eingeladen wurde. Denn wie Beckmann hier die hellste Freude an konkurrierenden Plots entfacht und auf offener Bühne die immense Verführungskraft einer guten Story zeigt, das ist nicht nur atemberaubend, sondern spielt schlichtweg in einer ganz eigenen Liga.
Christine Wahl