Das System ist die Seuche
Thomas Köck stellt seiner Überschreibung der Ödipus-Tragödie „einige kleine anmerkungen“ voran, in denen er erklärt, worum es ihm geht. Der antike Mythos stehe für eine konservative „so wars schon immer“-Haltung; er wolle dem ein „what if“ entgegenhalten. An der Vorlage habe er „nur ein zwei parameter verändert“ und dann geschaut, was passiert. Der entscheidende Eingriff: Die Seuche, von der Theben heimgesucht wird, ist in Köcks Version nicht die Pest, sondern „das system“. Das delphische Orakel Pythia (das bei Sophokles nicht auftritt) hat das Problem durchschaut, aber keiner hört ihm richtig zu.
Der österreichische Dramatiker Thomas Köck, zweifacher Gewinner des Mülheimer Dramatikpreises (2018, 2019), ist seiner steilen Vorlage literarisch durchaus gewachsen. „forecast:ödipus – living on a damaged planet (τύφλωσίς, II)“ ist ein süffisant satirischer, durch und durch sprachmusikalischer Sophokles-Remix. Stefan Puchers großformatige Uraufführungsinszenierung wirkt trashig und technoid zugleich – und entspricht darin der retrofuturistischen Vorstellung des Autors, der das Stück in den geschmolzenen Pixeln von verbrannten Computerbildschirmen und den lückenhaften Codezeilen auf verrottenden Festplatten ansiedelt.
Köck folgt dem Plot der antiken Tragödie zwar über weite Strecken, aber das ganze Gerede vom großen Unbekannten, der den Vater erschlagen und mit der Mutter geschlafen hat, dient hier hauptsächlich dazu, eine unangenehme Wahrheit zu verschleiern: Es liegt gar kein Fluch über der Stadt, die Menschen haben ihr Schicksal selbst in der Hand, sie müssten nur radikal das System verändern. Stichworte: Ausbeutung der Ressourcen, Wirtschaftskrise, Klimakatastrophe, „damaged planet“.
Aber davon will natürlich niemand etwas wissen, am allerwenigsten der Chor der „wohlstandswutschnaubenden“ Greise, die sich ihre Hybridboliden und ihre achtspurigen Straßen nicht nehmen lassen wollen. (Das Stück ist ein Auftragswerk für das Schauspiel Stuttgart, wo die Wahrscheinlichkeit groß ist, dass auch PS-Wutbürger wie diese Choristen im Parkett sitzen.) Der Seher Teiresias prophezeit stur den alten Mythos („same old story / meine fresse“), der Realpolitiker Kreon wartet erst mal ab („regieren heißt dosieren“), Ödipus selbst blickt lange nicht durch („was weißt du denn / wer weiß hier eigentlich irgendwas“). Wer es genauer wissen will, kann sich übrigens in einem anderen für die Stücke 2024 nominierten Drama, „Laios“ von Roland Schimmelpfennig, die Vorgeschichte der Ödipus-Tragödie erzählen lassen.
Für Thomas Köck liegt die Tragik des Stoffs darin, dass insgeheim alle wissen, was gespielt wird – und trotzdem alle weiter mitspielen. „weil das schaudern / weil das geld / weil die macht / weil das wachstum / (…) weil die verkaufszahlen / weil das abo / weil weil weil.“ Nach dem auch bei Thomas Köck bitteren Ende hält das Stück für König Ödipus hier noch eine mindestens ebenso bittere Erkenntnis bereit: Seine Tragödie war umsonst, das System macht weiter.
Wolfgang Kralicek