3. Juni 2023 •
Bevor heute Abend die offizielle Preisjury der „Stücke“ tagt und den Mülheimer Dramatikpreis 2023 vergibt, haben die Bloggerinnen ihre Stimme abgegeben. Vier der sieben eingeladenen Stücke wurden genannt, eines von ihnen gleich dreimal. Hier sind die Blog-Favoriten:
Lina Berber: Golda Barton / Glossy Pain mit „Sistas!“
Wo komme ich her, wo gehöre ich hin? „Sistas!“ stellt so viele Fragen, führt Gespräche und Diskurse, konfrontiert mit einigen der aktuellsten und aufrührendsten Themen, ohne dabei zu ernst zu werden. Die Figuren sind alle nicht perfekt, sie gehen ihren eigenen Weg und machen ihre eigenen Fehler, aber das macht sie nur liebenswerter. Man hört ihnen gerne zu und wäre am liebsten selbst da unten auf dem Teppich, mit ihnen. Trotz wichtiger und kontroverser Themen vermittelt die Vertrautheit von „Sistas!“ allein beim Lesen eine Atmosphäre in der man sich wohlfühlt und gerne über die Dinge nachdenkt, die der Text thematisiert.
Sarah Füssel: Caren Jeß mit „Die Katze Eleonore“
Schon seit der Pressekonferenz schwirrt die Katze Eleonore in meinem Kopf herum. Spätestens aber seit dem ersten Lesen lässt sie mich nicht mehr los. Caren Jeß schafft mit ihrem Stück ein mehrdimensionales Bild von Individualität und weiblicher Lebenserfahrung. Der geschriebene Text erinnert an eine Partitur: Musikalisch strukturiert entwirft sie die Sprache einer Katze und doch geht das Lesevergnügen nie verloren. Auch durch die hervorgerufene Selbstreflexion bleibt dieser Text nach dem Lesen lange im Gedächtnis.
Maja Grüter: Caren Jeß mit „Die Katze Eleonore“
Ich bin hin- und hergerissen zwischen „Bühnenbeschimpfung“, „Die Katze Eleonore“ und „Der Triumph der Waldrebe in Europa“. Das beste Stück ist nach meinem Empfinden eines, das sich in drei Aspekten beweisen kann: In der Handlung, seiner Sprache und der Bilderprojektion im Kopf. Ein Text muss Bilder auslösen, bemerkenswert klingen und man muss ihm folgen wollen. Alle drei Stücke behandeln starke, gesellschaftskritische Themen, aber nur einem ist es gelungen, mich vollkommen zu überzeugen. „Die Katze Eleonore“ schafft es, auf den unüblichsten Wegen interessant zu sein. Beim Lesen wusste man immer, wo das Stück enden wird, aber durch das „Wie“ wurde ich trotzdem überrascht. Der Text hat mich an vielen Stellen rätseln lassen und noch nie fand ich Gefühle des Ekels oder Fremdschämens so gut wie hier. Diese Einzigartigkeit verdient es, gewürdigt zu werden.
Celine Kaddatz: Sivan Ben Yishai mit "Bühnenbeschimpfung (Liebe ich es nicht mehr oder liebe ich es zu sehr?)"
Dieses Jahr fiel mir die Entscheidung überraschend leicht. Was mich gleichzeitig irgendwie glauben lässt, am falschen Ort zu sein. Schon bevor die Mülheimer Theatertage angefangen haben, habe ich überlegt, das Theater – ganz wutbürgerlich – zu … kritisieren. Sagen wir es mal so: Sivan Ben Yishai ist mir zuvorgekommen. Versteht mich nicht falsch, ich liebe Theater. Ich habe es schon immer geliebt. Und trotzdem gibt es vieles, was mich stört. Ich kenne die Institution aus verschiedenen Perspektiven. Ich sitze im Publikum, um Theater zu fühlen, ich stehe am Rand, um über Theater zu berichten und ich bewege mich hinter der Bühne, um im Theater zu arbeiten. Ich finde es wichtig, den Mund aufzumachen und weiß gleichzeitig, wie viel davon abhängt. Umso beeindruckter bin ich von dem Stück "Bühnenbeschimpfung (Liebe ich es nicht mehr oder liebe ich es zu sehr?)”. Meine Stimme geht ganz klar an Sivan Ben Yishai und den Mut die eigene Meinung zu äußern.
Carlotta Leitner: Sivan Ben Yishai mit "Bühnenbeschimpfung (Liebe ich es nicht mehr oder liebe ich es zu sehr?)"
Sivan Ben Yishai spricht Themen an, die Theater und Gesellschaft beschäftigen. Ihr Text thematisiert Machtmissbrauch und Rassismus, Politik und Aktivismus und bereichert dadurch die Diskussion über das Theater als Institution, welches Menschen bisweilen als Machtinstrument ausnutzt. Dabei stellt der Text diejenigen in den Mittelpunkt, die selbst Teil des Theaterapparats sind und gibt denen eine Stimme, die normalerweise nicht gehört werden. So gelingt dem Text das, was Theater für mich ausmacht: Das Anstoßen von Denkprozessen und das Reflektieren über das eigene Sein.
Lotte Löhausen: Sivan Ben Yishai mit "Bühnenbeschimpfung (Liebe ich es nicht mehr oder liebe ich es zu sehr?)"
Sivan Ben Yishais Bühnenbeschimpfung ist mir nach dem Lesen und Schauen am deutlichsten in Erinnerung geblieben. Sei es durch ein ständiges „Skrihipt“, das mir gesungen durch den Kopf kreist, oder die „Gib-gib-gib“-Aufforderung nach allem, was einer Situation gerade fehlt. Sie macht deutlich: Meinung Bekennen innerhalb einer Institution, auch wenn man finanziell auf sie angewiesen ist, ist nicht nur im Theaterbetrieb wichtig. Das wird uns hinsichtlich bevorstehender Klimakatastrophen sicher noch viel beschäftigen. Sivan Ben Yishais Text ist ein wichtiger Gedankenanstoß. Und noch dazu witzig und entrüstend ehrlich.
Emily Lüpken: Clemens Setz mit „Der Triumph der Waldrebe in Europa“
Eine Collage aus kleinen Textstücken, verspielt, neuartig, künstlerisch. Sie wirft viele Fragen auf und regt noch lange zum Nachdenken an. Mir gefällt die Leichtigkeit des Stücks, es erschlägt nicht, es bietet sich an. Und ist dabei ganz am Puls der Zeit: Die Angst vor dem Tod, die Möglichkeiten der Technik und das Ausbrechen aus der Gesellschaft sind fabelhaft dargestellt. Die Charaktere sind originell, vielseitig und authentisch. Dabei braucht der Text keine großen Monologe und verwirrenden Metaphern. Er spricht einen unverbindlich an und gelangt dadurch mitten ins Herz.