31. Mai 2023 •
Lautes Sirenengeheul, rauchende Angestellte und gute Ratschläge zur Wundversorgung für misshandelte Hausfrauen. Aber auch die Anbetung einer Guru-artigen Person, die schwachsinnige Ratschläge von sich gibt: Man solle mehr Salbeitee trinken. An solche Szenen kann man sich nach der schlaglichtartigen Inszenierung von Katja Brunners „Die Kunst der Wunde“, unter Regie von Katrin Plötner, erinnern. Auch an das mulmige Gefühl, dass das Störgeräusch im Hintergrund hervorruft, und an die Frage nach einem atmenden Felsen.
Das Stück ist vielseitig, kurzweilig und zeigt keine stringente Handlung. Stattdessen illustriert das Ensemble des Schauspiel Leipzig auf der Bühne ein Rätseln und Nachforschen, das versucht, „die Fiktion des Staates in ihrer Fiktionalität auszustellen“, so Brunner beim anschließenden Publikumsgespräch. Dabei wird inszenatorisch wenig dem Zufall überlassen. Alle Bewegungen auf der Bühne scheinen abgestimmt. Synchron versinken die Schauspieler*innen in den Spalten des Bühnenbilds von Anna Brandstätter, das an eine Mischung aus Hüpfburg und Gummizelle erinnert.
Gym-ähnliche Szenen oder Tanzeinlagen bieten einen heiteren Kontrast zur Sprache Brunners. Schauspielerin Katharina Schmidt bringt das Publikum durch ihre Imitation von Babyquietschen zum Lachen. Kurz darauf kopiert sie einen Tonfall, der and die deutsche Synchronstimme von gelangweilten amerikanischen Superhelden erinnert, während sie pantomimisch eine Zigarette raucht und mit den anderen Figuren darüber sinniert, woraus der Staat gemacht ist.
Auch durch die sonderbaren Kostüme (Johanna Hlawica) aus unterschiedlich farbigen Steppkleidern, -hosen und Jacken bekommt das Gesamtbild eine alberne Note. Diese untermalt paradoxerweise die Ernsthaftigkeit des Texts, der als Textfläche geschrieben ist und also nicht festlegt, welche Sätze von wem gesprochen werden.
Erst durch die unterschiedliche Intonation und Taktung der Schauspielenden gewinnt das Gesagte an erkennbarer Struktur. Denn Brunners Text ist anspruchsvoll: klug und wild zugleich. Gespickt mit Wiederholungen, Wortwitz und intertextuellen Bezügen. Und immer wieder Listen! Diskursversatzstücke werden so dicht miteinander verwoben: „Der Staat ist gemacht aus Eigenheimen, Hypothekzins und Belehnung, aus Lena, Jena, Patrick und Sandra, aus Uwe, Uwe und Beate, aus Rostock in den 90ern und Heer, Stahl und Sturm, aus Bayer, Laktatimitat und das wissen wir nicht, wir wissen es einfach nicht“, heißt es da.
Wen geht es etwas an?
Dieses Stück lädt zum Nachdenken ein: darüber, was es mit diesem Felsen auf sich haben könnte, von dem die fünf Schauspielenden andauernd sprechen. Dessen Atem sie wahrzunehmen versuchen, indem sie ihre Ohren auf den Bühnenboden pressen. Möchte dieser Abend entschlüsselt werden, oder reicht dem Stück das Vorführen?
Vielleicht ist es okay, nach dem Theaterbesuch mit dem Gefühl nach Hause zu gehen, nichts Konkretes verstanden oder eine Metapher erfasst zu haben. Dafür bleiben eindrucksvolle Bilder im Kopf, einzelne Formulierungen und der Gesamteindruck von Chaos und Bemühung. Denn der Staat, das sind doch wir alle. Er ist lebendig und eben kein Stein, weil in ihm gearbeitet, erzogen und erinnert wird. Wie im eindrucksvollen und berührenden Monolog der Schauspielerin Amal Keller, der an die Ermordungen in Hanau erinnert. An die neuen Schuhe von Hamza Kurtović, den vorvorletzten Schluck im Glas von Sedat Gürbüz und Ferhat Unvars Diplom auf der Post, das nicht mehr bei ihm ankam.
Dennoch bleibt die Frage: Muss ein Stück über den Staat – aus Steuergeldern finanziert – für alle verständlich sein? Oder dürfen Autor*innen so schreiben, dass man beim ersten Lesen nicht viel versteht?
Ja, sie dürfen, weil: „richtig geil“, um das Stück zu zitieren. Konsens oder leichte Kost ist Katja Brunners Text sicherlich nicht. Und trotz der heiteren Elemente ist auch die Inszenierung nicht einfach zugänglich. Aber es geht ja auch um große Konzepte: um Staat, Erziehung und Lohnarbeit. Um Erinnern und Verwundbarkeit. Ach ja, und um einen atmenden Felsen. Vielleicht.