Spiel mit den Sinnen


Diskurs

„Kultur ist ein Spiegel der Gesellschaft“ – dieser Definition nach sollten die Mülheimer Theatertage deutlich machen, was uns alle miteinander bewegt. Doch welche Themen und Arbeitsweisen finden sich wirklich in den Stücken wieder und was bedeutet das für das Theater und uns als Gesellschaft? Ständiges Leistungsdenken und ein Wegrationalisieren der Fantasie lässt die Sinne in unserer Gesellschaft immer mehr abstumpfen. Wie ein Rettungsring wirken da die Kinderstücke „Luft nach oben“ von Fabienne Dür und Ulrich Hubs „Lahme Ente, blindes Huhn“, in denen mit abstrus erdachten Fantasien das eigentliche Sehen ersetzt wird.  

Während in „Lahme Ente, blindes Huhn“ eine Ente ihren Freund mit Wegbeschreibungen auf eine spannende Abenteuerreise schickt zu „dem Ort, wo alle Träume wahr werden“, erleben die drei Freunde Fri, Sop und Kar in „Luft nach oben“ fantastische Superschurken und unheimliche Schauplätze. In beiden Stücken fällt eins auf: Real sind die Sinneseindrücke nicht. Die Abenteuer sind ausgedacht. Schmälert das das Erlebnis der Hauptcharaktere und der Zuschauer*innen? Nein, ganz im Gegenteil. Es werden nicht nur die Grenzen der Sinne, sondern auch die der Vorstellungskraft gesprengt. Die erdachten Szenerien malen nicht nur eine Landschaft – sie malen Leidenschaft und reflektieren, was die Charaktere erleben und wie sie sich fühlen. Es ist so klug wie naheliegend, den Wunsch nach Selbstbestimmung und Anerkennung in „Luft nach oben“ durch Superheldenfiguren in einem Computerspiel darzustellen. Abgesehen davon steigert es die Spannung, wenn man beobachten kann, wie die Figuren untereinander mit der Traumwelt hantieren. Nur dadurch gelingt ein überraschendes Ende wie in „Lahme Ente, blindes Huhn“. Dort erfährt das blinde Huhn, dass Wald, Abgrund und Gebirgsfluss nur ausgedachte Szenerien der lahmen Ente waren. Sie sind die ganze Zeit nur im Kreis gelaufen. Die ganze Reise war eine Lüge.

In beiden Stücken fokussieren die Autor*innen den Sinn des Sehens. Aber weshalb dort stehenbleiben? Vielleicht ist dies der Anfang für eine ganz neue Art von Theater. Abgesehen davon, dass durch das Einbringen von Videospielen Theater nah am Geiste der Jugend ist, kann das Theater durch den Aspekt der Sinne in „Lahme Ente, blindes Huhn“ auch Menschen thematisieren, die noch viel zu wenig im Theater vorkommen. Was wäre mit einem tauben statt blinden Huhn? Was mit einem stummen Huhn? Im Theater hat man die Mittel und kreative Freiheiten, um zu zeigen, dass eine Einschränkung der Sinne auch zu einer Erweiterung der Eindrücke führen kann. Dazu waren „Lahme Ente, blindes Huhn“ und „Luft nach oben“ ein erster Schritt.

Bruch der Konventionen

Wer anders handelt als normal, der muss sich anpassen. So reagieren zumindest die Mitmenschen in den Erwachsenenstücken „Die Katze Elenore“ (Caren Jeß) und „Der Triumph der Waldrebe in Europa“ (Clemens J. Setz). In beiden Stücken entscheiden sich die Hauptcharaktere zu einem unkonventionellen Leben: In ersterem wird eine Frau zur Katze. Die Katze Eleonore kündigt ihren Job und fängt ihr selbstbestimmtes Katzenleben an, mit Katzenbett und Katzenfraß. Im zweiten Stück lebt der verstorbene Sohn durch das Tablet weiter. Die Gesellschaft reagiert entsetzt und drängt zu Rechtfertigungen. Aber wie heißt es in dem Stück „Die Katze Eleonore“? „Ich will nichts erklären, es reicht nicht und langweilt mich“. Auch in „Der Triumph der Waldrebe in Europa“ wird auf weitere Nachfragen argwöhnisch reagiert: „Was meinen Sie mit 'wie sieht das aus`? Wie soll das schon aussehen? Lehrer gibt Aufgabe, Schüler löst Aufgabe. Sie waren doch auch in der Schule“, antwortet Renate auf die Nachfrage, wie ihr Sohn die Hausaufgaben erledigt. Wenn das Abwehren der Antworten nicht ausreicht, wird den Interviewenden den Stecker gezogen. Es gibt keine Gespräche mehr. Wohin führt das? In beiden Stücken wird die Antwort offengelassen, es gibt nicht nur kein gutes Ende, es gibt gar kein eindeutiges Ende. Beide Stücke zeigen: Das Ausbrechen aus der Norm beschäftigt. Es beschäftigt so sehr, dass das Gespräch im Theater dafür nicht reicht – es muss weitergeführt werden, bis an den eigenen Familientisch.

Sinne und Fantasie. Ausbrechen aus der Konvention. Sicher sind dies nicht die einzigen Themen, die auffällig in den Mülheimer Theatertagen 2023 thematisiert wurden, aber diese kommen häufiger vor und haben dadurch mehr Gewicht. Erwachsenen- wie Kinderstücke plädieren für mehr Offenheit und das Thematisieren der Grenzen – gedanklich wie gesellschaftlich. Wenn es das ist, was die Kinder- und Erwachsenenstücke gemeinsam haben, dann stimmt mich der Gedanke an die Zukunft des Theaters und der Gesellschaft froh. Vielleicht können auf diesem Wege alle zusammenarbeiten, um neue, positive Veränderungen zu wagen.