Welchen Ort erträumst du dir?


Kritik

Wer wünscht sich nicht manchmal weit fort, weg von den schlecht gelaunten Menschen um einen herum, weg von der Perspektivlosigkeit und prekären Arbeitsbedingungen oder langweiligen Alltagsaufgaben?

So auch die drei Figuren in Roland Schimmelpfennigs „Märchen von der kleinen Meerjungfrau“. Ihnen bietet ihr Wohnort keinerlei Perspektive und sie sprechen sogar vom Sich-Auflösen. Es zerrinnt Sand zwischen ihren Händen. „Stellt euch vor, euer Name würde sich auflösen, und dann wärt ihr nicht mehr da“, sagt das Mädchen verzweifelt.

In der Regie von Marcel Kohler stehen Maren Kraus, Timo Jander und Leon Wieferich hell beleuchtet vor großen Steinen und Wassereimern aus Blech. Schwapp, ergießt sich der erste Eimer über dem Kopf des Mädchens. Nach kurzem Gerangel folgt ein zweiter Eimer Wasser, der „Junge 1“ erwischt, ein nächster trifft „Junge 2“. Bald ist der schwarze Bühnenboden eine einzige Pfütze und alle drei Schauspieler*innen sind pitschnass.

Das entstehende Gewirr samt durch den Raum fliegender Eimer, Ziehharmonika-Musik und einem vorgeführten Seetang-Tanz macht die Beziehung der drei Figuren sichtbar, ihre Freundschaft und Vertrautheit. Es entsteht eine Situationskomik, wenn einer der Jungs sein Ohrenwackeln zum Besten gibt. Das Publikum in der ersten Reihe duckt sich schnell, als das Wasser spritzt, Lachen im ganzen Saal.

Die Eimer in Marcel Kohlers Bühnenbild sind stapelbar: Bald werden sie zu einer Fabrik, später sogar zum mächtigen König der Meere. Auch die Nebelmaschine kommt zum Einsatz, als die drei hinter der Fabrik nach einer Hexe suchen. Denn sie wünschen sich Fischschwänze, um nach der Stadt unter dem Meer zu suchen. Sie erträumen sich Straßen aus Perlmutt, auf denen sich neben Seepferdchen und Pistolenkrebsen auch ansehnliche Meerjungmenschen tummeln.

Welle um Welle um Welle

Gerne hätte man die Hexe gesehen, aber anstelle einer Person wird ein Eimer adressiert, dessen überraschend freundliche Stimme aus dem Off erklingt. Lina Maly, die der Hexe ihre Stimme leiht, singt das behagliche Lied mit Ohrwurmpotenzial, das in einer traumähnlichen Episode kurz vor Schluss aus den Lautsprechern ertönt. Auf ein großes Tuch wird eine Animation projiziert (Ken Chinea), die das Publikum unter die Meeresoberfläche mitnimmt, nachdem die drei Held*innen Schiffsbruch erleiden. Hin zu den Fischen, den Oktopussen, den Schildkröten. Schließlich verwandelt sich die illustrierte Meereslandschaft in etwas Orangenes – warum so auffällig orange, könnte man sich fragen, wo doch die sonstige Kulisse eher wenig farbenfroh gehalten ist? Die Signalfarbe stellt sich als Rettungsweste heraus. Eigentlich offensichtlich, na klar: Das viel zu kleine Boot der drei Held*innen, ihr Wunsch nach einem neuen, besseren Ort, der Schiffsbruch…

Musik und Animation bringen uns auf sanfte Weise hin zu den Menschen, die sich größten Risiken aussetzen, um fortzugelangen. Aber das Thema Flucht gerät schnell wieder aus dem Fokus, während die drei Held*innen über die Stadt unter dem Meer mit ihren Unterwasserwolkenkratzern und Hamburgern aus reinem Plastikabfall berichten.

„Wie würde dein Königreich aussehen?“ oder „Welchen Ort erträumst du dir?“, steht auf den Fischen aus Pappe, die zu Beginn der Vorstellung ausgeteilt wurden. All das macht nachdenklich. Wie sieht er wohl aus, der Ort, an dem wir leben möchten? Eine klare Antwort ergibt sich nicht auf Anhieb. Aber sicherlich ist es keine langweilige Welt, auch keine voller Hamburger aus Plastikmüll und definitiv keine, in der Menschen auf zu kleinen Booten vor Europas Küsten kentern und im Meer ertrinken.