Ganz viel Wut


Kritik

Der Abend beginnt mit tosendem Applaus, und endet in Stille. Ohne Schlussapplaus bleibt eine Verabschiedung des Ensembles aus und die Zuschauer*innen werden zurück ins echte Leben entlassen, abrupt, schonungslos und direkt. So wie auch „Bühnenbeschimpfung (Liebe ich es nicht mehr oder liebe ich es zu sehr?)“ schonungslos und direkt ist. Die Autorin Sivan Ben Yishai schreibt über die Wahrheiten, die wehtun. In einer Welt, deren Teil sie ist. Über die Strukturen des Theaters, die Menschen zu ihrem Instrument der Macht machen und ihnen die Luft zum Atmen nimmt.

Ein Abend, der vor allem eins, und zwar wütend macht. Wütend auf die patriarchalen Strukturen, die die Welt beherrschen. Wütend auf das Schweigen. Wütend auf das Theater als Institution. Wütend, da altbekannte Hierarchien nur langsam aufgelöst und überkommene Traditionen weitergeführt werden. Der Gender Pay Gap besteht am Theater nach wie vor, ebenso wie Existenzängste durch befristete Engagements. Und von zumutbaren Arbeitsbelastungen sind wir weit entfernt. 

Die Schauspieler*innen bezeichnen ihren Körper selbst als Institution. Eine Beschreibung, die im Laufe des Abends immer wieder den Saal des Theaters füllt. Die Körper der Schauspieler*innen, welche in jede Rolle schlüpfen, sich selbst vergessen und reinen Anweisungen befolgen. „Gib mir Skript! Gib gib gib mir Skript“ fordert die Schauspielerin Aysima Ergün ihren Kollegen Christian Bojidar auf. Als Souffleur fleht sie ihn an, ihr das heilige Skript zu geben. Stille auf der Bühne erträgt sie nicht. Sie versucht durch Impro, Tanz und Comedy den Saal zu füllen. Ein Moment, der Unbehagen im Publikum auslöst. Anfangs erklangen noch vereinzelt Lachgeräusche, jetzt ist es nur noch unangenehm, der Schauspieler*in dabei zuzusehen, wie sie langsam aber sicher den Halt auf der Bühne ohne das Skript verliert. Denn es muss immer einen Input geben für die Akteur*innen, egal ob sie sich mit dem gegebenen Text identifizieren oder nicht. Schauspieler*innen werden selten aufgefordert, ihre eigene Stimme zu nutzen und ihre Ansichten auf der Bühne kundzutun. „Die beste Meinung ist, keine Meinung zu haben“, heißt es auf der Bühne. Und so dreht sich das Stück nicht allein um die Institution Theater, sondern um all diejenigen Institutionen, die sich durch patriarchale und kapitalistische Strukturen auszeichnen.

Besonders die Gesichter hinter der Institution werden im Stück gesehen. So beschreibt die Laudatio, welche zuvor auf Sivan Ben Yishai bei der Preisverleihung der 48. Mühlheimer Theatertage für ihr Stück „Wounds Are Forever (Selbstportrait als Nationaldichterin)“ des vergangenen Jahres gehalten wurde, sie als eine Autorin der Stimmen, nicht der Figuren. Auch in „Bühnenbeschimpfung“ geht es um die Stimme, nicht nur um den bloßen Körper der Schauspieler*innen. Es geht um den Menschen hinter den Akteur*innen. Um ihre Ängste, Sorgen und Erfahrungen, welche den Beruf angehen.

Warten aufs Handyklingeln 

Mehmet Yilmaz verarbeitet seine Biografie als selbstständiger Schauspieler in einem 15-minütigen selbstgeschriebenen Monolog, welchen er stehend, mitten im Publikum, wiedergibt. Oder eher schreit. Er schreit seine Worte und damit auch seine Wut direkt in den Publikumsraum hinein und trifft unmittelbar. Seine Worte sind schonungslos und zeigen seinen wahren Alltag gefüllt mit Existenzängsten und Ungewissheit. Er wartet auf das Klingeln seines Telefons, welches ihm den verhofften Auftrag bringt. Er wartet und wartet und wartet und wartet. Es scheint, als lasse Mehmet Yilmaz seine Hüllen fallen und streife das Gewand des Schauspielers ab. Als stehe er nackt vor den Zuschauer*innen und zeige ihnen die Welt hinter dem Vorhang. 

Sivan Ben Yishai und dem Team des Maxim Gorki Theaters in Berlin gelingt es, auf eine spielerische Art und Weise zu dokumentieren, welche Fragen von Macht und Struktur uns in so vielen Bereichen beschäftigen. Gemeinsam mit Dramaturgin Valerie Göhring und Regisseur Sebastian Nübling werden drängende politische Fragen wie die ungleiche Verteilung der Gehälter unter den Geschlechtern im Theater thematisiert. Bei der Publikumsbefragung im letzten Akt des Stückes, in welcher die Frage nach der Höhe des Gehalts gestellt wurde, stehen am Ende nur Männer. Ein, zwei Frauen konnten bis zu einer gewissen Summe die Frage mit Ja beantworten, doch der am besten bezahlte war am Ende doch wieder ein Mann. Ein überraschter Aufruf aus den Reihen bleibt aus. Zu gewohnt ist der Moment, der als Paradebeispiel für den Alltag vieler weiblich gelesener Menschen gilt. Am Ende sind die Sitzreihen mit Frauen besetzt und die Männer stehen über ihnen. 

Rassismus, Aktivismus, Politik, Machtmissbrauch. Themen, die Theater beschäftigen und die Sivan Ben Yishai anspricht. Machtmissbrauch anhand der Vorwürfe gegen die Intendantin des Gorki Theaters selbst, Politik anhand der Frage, ob Theater politisch ist. Ob Theater eine Form des Aktivismus ist, bleibt offen und am Ende bleibt nur die Stille. 

Die Stille, welche sich nach Verklingen des letzten Wortes ausbreitet, aber durch die hastigen Schritte der Bühnenbauer*innen unterbrochen wird. Das Theater als Institution geht seinen gewohnten Gang. Das Saallicht geht an, die Kulisse verschwindet, die Bühne wird leer. Die Frage nach Veränderung bleibt stumm im Raum stehen. Kann Theater auch innerhalb der eigenen Mauern etwas bewirken? Oder bleibt es Instrument derjenigen Systeme, die seit Jahrhunderten unsere Welt dominieren?