Anders leben
Manche Menschen klettern ohne Seil und Eisen auf den schroffsten Felsen. Manche stürzen sich ins Meer, andere aus Flugzeugen. Einige durchwandern Wüsten. Sie alle, ausnahmslos alle, gehen sehr weit und spüren doch nicht, was Eleonore spürt: dass die wirklich radikalen Schritte in der kleinsten Bewegung stecken. Danach verändert sich deine Natur. Ins alte Leben kehrst du nicht zurück.
Eines Tages sitzt Eleonore auf ihrem Sofa. Es ist ein elegantes Sofa, von derselben unaufdringlichen Art, mit der Eleonore ihren Kunden die Maklergebühr für schicke Domizile aus der Tasche zu ziehen pflegt. Aber Eleonore sieht nicht das Sofa, sie sieht eine Katze. Die Katze putzt sich die Pfoten. Eleonore denkt an ihre Mutter, an deren ewiges Blabla – „und dann, unwillkürlich, leckte ich mir den Teil meiner Hand zwischen Daumen und Zeigefinger, wo es weich ist, wo Fleisch und Sehnen sind“. Erst im Lecken fällt ihr auf, dass sie leckt. Sie blickt auf und der Katze direkt in die Augen.
Das ist jetzt für durchzivilisierte (Theater-)Klappstuhlinhaber*innen, die ein schickes Sofapolster und ein sicheres Einkommen durchaus zu schätzen wissen, vielleicht ein bisschen schwer zu verstehen. Aber tags darauf leistet sich Eleonore ein Fell. Maßgeschneidert. „Ich trug das Fell heim wie ein ohnmächtiges Tier, das es zu reanimieren galt.“
Die Reanimation ist geglückt. Nicht gerade märchenhaft – wer wollte das schon bei so einem Stück? – dafür mindestens so geschmeidig wie eigenwillig. Maßgeblichen Anteil hat daran Solodarstellerin Karina Plachetka in der Uraufführung des Staatsschauspiel Dresden. Und natürlich Caren Jeß. Die 38-jährige gebürtige Norddeutsche, die mittlerweile in Dresden wohnt, hat in ihren Dramen mehrfach krallenscharfe Beobachtungsgabe bewiesen. Auch in diesem Monolog stürzen das Animalische und das Menschliche, das (Tier-)Fabelhafte und das Individualistische ineinander.
Die einstige Immobilienmaklerin streift also ihr altes Ego ab und schultert mit dem Kunstfell auch die Unzulänglichkeiten, die sich zwangsläufig einstellen, weil die physische Verwandlung der psychischen unterlegen bleibt. „Ich dachte, es würde verwachsen mit meiner erbärmlichen Menschenhaut“, gibt Eleonore zu, „tut es aber nicht. Nun gut, man geht Kompromisse ein. Das bleibt auch als Katze nicht aus“.
Ansonsten darf man sich diese Katze durchaus als glücklichen Menschen vorstellen. Wie es scheint (oder wie sie es wahrnimmt), gelangt sie im neuen Gewand hinter die nichtssagende Fassade menschlicher Kommunikation: „Meine Sinne sind Gold. Mein Instinkt ist gewaltig.“
Statt sich in einem Kuschelhaustier nur zu spiegeln, ist sich Eleonore nun selbst genug. „Ich habe keinen Alltag mehr. Für mich nur noch Allnacht.“
Weltflucht? Womöglich. Auch das. Das wahrscheinlichere Motiv für diese Metamorphose ist wohl: Zivilisationsverachtung. Ärztinnen und Therapeuten nimmt Eleonore ihrer neuen Existenzform zuliebe jedenfalls in Kauf. Sie spielt ganz gern. So wie die Katze mit der halbtoten Maus.
Stephan Reuter