Jetzt reden wir!
In seinem Anti-Stück „Publikumsbeschimpfung“ (1966) hat Peter Handke das traditionelle Format einer Theateraufführung nach Strich und Faden dekonstruiert. Mehr als 50 Jahre danach sind die Fragen, die Handke an das Medium stellt, in dieser Form nicht mehr besonders brisant. Dass es aber nach wie vor lohnend sein kann, sich in einem Theaterstück das Theater selbst vorzuknöpfen, zeigt Sivan Ben Yishai mit ihrer „Bühnenbeschimpfung“.
Die 1978 in Tel Aviv geborene, in Berlin lebende Autorin ist zum dritten Mal für die Mülheimer Theatertage nominiert; im Vorjahr gewann sie für „Wounds Are Forever (Selbstportrait als Nationaldichterin)“ den Mülheimer Dramatikpreis. Ben Yishais Texte zeichnen sich durch den scharfen Blick aus, den sie auf die Gesellschaft wirft; durch die Schonungslosigkeit, mit der sie aufschreibt, was aufgeschrieben werden muss; und nicht zuletzt durch einen ausgezeichneten, bösen Sinn für Humor. All diese Qualitäten kommen auch im neuen Stück zum Tragen, dessen voller Titel „Bühnenbeschimpfung (Liebe ich es nicht mehr oder liebe ich es zu sehr?)“ lautet (der Untertitel ist ein Roland-Barthes-Zitat). Mit feinem Sinn für die Verlogenheiten des Metiers gelingt Ben Yishai eine gnadenlose Analyse der Institution Theater, die man zugleich als vergiftete Hommage lesen kann.
Im ersten Teil („Der Körper als Institution“) stehen Vorgänge auf der Bühne im Fokus. Eine nicht näher definierte Gruppe von Schauspieler*innen spricht über den problematischen, widersprüchlichen Charakter ihres Berufs. Dazu gehört zum Beispiel, dass sie zwar den Anspruch haben, kritisches Theater zu machen, dabei aber selbstverständlich nicht den Machtmissbrauch im eigenen Intendantenbüro oder auch nur die eklatanten Gehaltsunterschiede innerhalb des Ensembles thematisieren. Was sie sagen, wird ihnen von anderen in den Mund gelegt; und es wird von den Schauspieler*innen erwartet, dass sie einen Text auch dann sprechen, wenn er ihren persönlichen Überzeugungen widerspricht.
Im zweiten Teil („Der Theaterabend als Institution“) richtet Ben Yishai den Fokus auf jene Gruppe, die im Theater meist zu Stillschweigen angehalten ist: auf das Publikum. Als könnte sie Gedanken lesen, lässt die Autorin Zuschauerinnen und Zuschauer aussprechen, was ihnen im Parkett so durch den Kopf geht. Sie reden über ihre Angst davor, mitspielen zu müssen. Und von der paradoxen Situation, dass sie schon vor Beginn der Vorstellung daran denken, wie sie nach der Vorstellung am schnellsten wieder nach Hause kommen. Im dritten Teil schließlich („Die Zukunft auf einem angrenzenden Areal wiedererrichten“) wird das dystopische Bild einer Welt gezeichnet, in der die Theater nur noch Ruinen sind.
Regisseur Sebastian Nübling und das Ensemble des Berliner Maxim Gorki Theaters sind mit dem Text ziemlich frei umgegangen, einiges wurde gestrichen, anderes hinzugefügt. Bei einer Uraufführung mag das ungewöhnlich erscheinen; gerade bei diesem Stück aber ist es genau der richtige Zugang. Für Sivan Ben Yishai gibt es ohnedies schon viel zu viele Schauspieler*innen, die nicht hinter ihren Texten stehen.
Wolfgang Kralicek