Sehr geehrte Damen und Herren,
sehr geehrte Mitglieder der Jury,
sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Scholten,
liebe Frau Steinberg,
liebe Anne Lepper – liebe Anne!
1. Köln-Hbf, Köln-Messe/Deutz, Köln-Mülheim, Leverkusen-Schlebusch, Opladen, Leichlingen, Solingen, Haan, Gruiten, Wuppertal-Vohwinkel, Wuppertal-Hbf. Bahnstation für Bahnstation brachte mich der Zug zu der ersten Verabredung mit Anne Lepper. Es war ein Freitag Nachmittag, der 21. September 2012. Vor fast fünf Jahren also. Diese Bahnstrecke entlang des südlichen Ruhrgebietes kenne ich - ebenso wie Anne Lepper - sehr gut, sie ist mir tatsächlich so etwas wie vertraut, ist sie doch ein guter Teil der Strecke in meine einige Stationen entfernter liegende Heimatstadt. Ich bin sie unzählige Male gefahren. Diese Bahnstrecke ist für mich eine Heimatstrecke. So auch an diesem Freitag auf dem Weg zu Anne Lepper. 19 Uhr trafen wir uns wie verabredet. In der Schreinerstraße 28. Im „Hayat“, der kurdischen Ölbergkneipe, einer Raucherkneipe, die Anne Lepper vorgeschlagen hatte. Es wurde ein langer, schöner, intensiver Abend. So hab ich ihn in Erinnerung. Es entstand vertrautes Terrain. Eine Art Heimat. Worüber wir gesprochen haben, habe ich vergessen. Wahrscheinlich recht bald über Robert Walser und W.G. Sebald. Dass wir einmal in Mülheim an der Ruhr in der Stadthalle zu einem solch feierlichen Anlass wie heute in dieser Weise zusammenfinden, haben wir damals sicher nicht gedacht. Umso mehr freue ich mich heute.
2. Robert Walser, der Name ist schon gefallen. Robert Walser ist ein großer Wahlverwandter von Anne Lepper. Aus seiner Feder gibt es bekanntlich zahlreiche Prosastücke, die sich mit dem Theater beschäftigen. Aus seinem Text „Lüge auf die Bühne“ möchte ich zitieren, um gleich zu Anfang etwas festzustellen: „Wir leben jetzt in einer merkwürdigen Zeit, wiewohl vielleicht alle Zeiten irgend so etwas Zeitlich-Merkwürdiges jeweilen an sich gehabt haben. Item, die unsrige scheint mir sehr, sehr merkwürdig, besonders dann, wenn ich so, wie ich es gerade jetzt tue, meinen Finger an die Nase lege, um darüber nachzudenken, was es eigentlich mit diesem Leben, das wir jetzt mit aller Macht in die Bühne hineinstopfen, für eine Bewandtnis hat. Wir füttern jetzt die Bühne mit Leben, daß sie wahrhaftig genug zu fressen hat. Der hinterste und verborgenste Dichter präsentiert dem Theater irgendwelches hinterste und verborgenste Stücklein Leben. Wenn das derart schwungvoll weitergeht, wird das Leben bald wie eine schwindsüchtige Kranke platt daliegen, ausgesogen und bis an die Rippen ausgepumpt, während das Theater so fett, behäbig und vollgestopft sein wird, ungefähr wie ein Ingenieur, der mit seinen patentierten Unternehmungen Glück gehabt hat und sich nun alles, was die Welt an Genüssen bietet, gestatten darf.
Die Bühne braucht Leben! Ja, aber Herrgottsack, woher all das gute, solide, wahrhaftige Leben nur immer nehmen? Aus dem Leben, nicht wahr? Ja, aber ist denn das Leben gar nur so unerschöpflich? Meiner Ansicht nach ist es nur insofern unerschöpflich, als man es ruhig, flüssig und breit, wie einen wilden, schönen Strom seine natürliche Bahn weiterziehen läßt. Man möchte aber bald des Glaubens werden, wir gebildeten Tröpfe von Menschen seien nur noch Ausbeuter, Ausklopfer des Lebens, nicht die natürlichen Kinder desselben. Gerade, als ob das Leben ein großer, staubiger Teppich wäre, der jetzt in diesem unseren Zeitalter über die Stange gehängt und tüchtig geklopft werden sollte.“
Die Dramatikerin Anne Lepper gehört nicht zu dieser auch heute noch existierenden Fraktion der Ausbeuter, der Ausklopfer des Lebens. Sie hängt das Leben nicht wie einen großen, staubigen Teppich über die Stange, um es tüchtig zu klopfen. Ihre Stücke, ihre Literatur beschenken vielmehr das Leben. Machen es reicher. Und die Bühne auch.
3. Es gibt einen Stummfilm aus dem Jahr 1919 von Ernst Lubitsch mit dem Titel „Die Puppe“, der später hier noch eine Rolle spielen wird. In einer Art Vorspiel ist der Meisterregisseur selbst zu sehen: Zu einer heiter-mechanischen Klaviermusik nimmt Lubitsch den Deckel einer weißen, mit einer springenden Puppe verzierten Spielzeugkiste ab und entnimmt ihr eine Bühnenschräge, die er direkt neben die Kiste stellt. Auf der Schräge sieht man eine Blumenwiese, durch die hinab sich ein wie ein S geschwungener Weg erstreckt. Dann entnimmt er der Kiste ein kleines weißes Haus mit dunklem Giebeldach, einem Fenster und einer Tür und baut es oberhalb der Wiese auf, so dass der Gartenweg an der Haustür seinen Ausgang nimmt. Als nächstes entnimmt er der Kiste drei Laubbäume, die er entlang des Weges aufstellt, und zwei dickere Baumstämme ohne Krone, die er perspektivisch genau im Vordergrund platziert. Neben die Haustür unter das Fenster stellt er eine kleine Gartenbank auf. Einen hohen, weißen Horizontprospekt errichtet er auf ganzer Breite der Schräge hinter dem Haus: ein wolkenloser Himmel. Dann stellt er zwei Puppen vor die Haustür, eine Frau und einen Mann, hebt das Giebeldach an und stellt die beiden Puppen hinein in das Haus, erst den Mann, dann die Frau. Schnitt. Die Haustür öffnet sich, heraus treten ein Schauspieler und eine Schauspielerin, genauso gekleidet wie zuvor die Puppen, und beginnen ihr Spiel – sie laufen an den Bäumen entlang den Gartenweg hinunter – bis der Mann stolpert, die Wiese hinabrollt und in eine Wassergrube fällt. –
Lubitsch selbst bezeichnete den Film „Die Puppe“ als „pure Phantasie; die meisten Kulissen waren nur aus Pappe, manche sogar aus Papier. Bis heute halte ich diesen Film für einen der einfallsreichsten, die ich je gedreht habe.“ Dieses Vorspiel, ungefähr die ersten 70 Sekunden des Films (mehr sind es nicht), hat sich mir eingebrannt wie ein Sinnbild: So wie Lubitsch Stück für Stück im Handumdrehen, eh man sich versieht, sein eigenes Theater aufbaut: unverfroren, offen, lustvoll, überraschend, schamlos, stur, frei, anarchisch, kindlich, sich um keine Regeln scherend, sich eigene Regeln schaffend – so entwirft die Dramatikerin Anne Lepper Stück für Stück schon mit wenigen Sätzen ihr eigenes Theater, eine eigene, befremdliche Welt mit ihren eigenen, irritierenden Gesetzen, die unser aller Welt in ihrer Fragwürdigkeit schmerzhaft, schön, komisch und frappierend zur Kenntlichkeit zeichnet. Ihre Stücke sind direkte Angriffe auf vermeintlich geltende Ordnungen und Regeln, höchst subjektive Infragestellungen von Konventionen. Ausbrüche aus Lebensläufen. Der Einzelne und die Gesellschaft. Jedes Stück zugleich eine radikale Herausforderung und Liebeserklärung an das Medium Theater. Für diese Sprache, Komposition und Textur muss - Stück für Stück - auf der Bühne jeweils forschend eine radikal neue Form gefunden werden!
4. Am 21. September 2012, an dem Tag unserer Verabredung, war Anne Lepper längst kein unbeschriebenes Blatt mehr. Ganz und gar nicht. Sie hatte nicht nur ihr Studium der Philosophie, Literatur und Geschichte in Wuppertal, Köln und Bonn absolviert sowie Promotionsstudien in Bamberg und Essen, sondern auch das Studium des literarischen Schreibens an der Hochschule der Künste in Bern.
Gleich mit ihrem ersten Theaterstück „Sonst alles ist drinnen“ erhielt sie die Einladung zum Münchner Förderpreis für deutschsprachige Dramatik. 2009 gewann dieses Stück in der langen Nacht der neuen Dramatik an den Münchner Kammerspielen den Publikums- und Förderpreis. Im Frühjahr 2010 wurde ihr Debutstück dann an den renommierten Münchner Kammerspielen uraufgeführt.
Mit ihrem Stück „Hund wohin gehen wir“ wurde Anne Lepper 2011 zum Stückemarkt des Berliner Theatertreffens eingeladen und gewann den Werkauftrag des Stückemarktes.
Ihr Stück „Käthe Hermann“ wurde am 5. Januar 2012 am Theater Bielefeld uraufgeführt, drei Tage später, am 8. Januar 2012, ihr viertes Stück “Seymour oder ich bin nur aus Versehen hier“ am Staatstheater Hannover. Im Frühjahr und Sommer produzierte der Westdeutsche Rundfunk nach den gleichnamigen Theaterstücken die Hörspiele „Hund wohin gehen wir“ und „Seymour“.
Mit dem Stück „Käthe Hermann“ wurde Anne Lepper im Mai 2012 erstmals zu den Mülheimer Theatertagen eingeladen, ebenso zu den Autorentheatertagen ans Deutsche Theater Berlin. Und in der Kritikerumfrage von „Theater heute“ wurde Anne Lepper zur Nachwuchsdramatikerin des Jahres 2012 gewählt.
Ein ausgesprochen segensreiches Jahr 2012 also!
Im Jahr darauf erhält sie den Dramatikerpreis des Kulturkreises der Deutschen Wirtschaft und ein Stipendium des Contemporary Arts Alliance Berlin. Im Februar 2015 wurde am Düsseldorfer Schauspielhaus ihr Stück „La Chemise Lacoste“ uraufgeführt. Das Theater Dortmund brachte im Mai ihr Jugendstück „Ach je die Welt“ zur Uraufführung. Es entstand das Stück „Entwurf für ein Totaltheater“, mit dem Anne Lepper im letzten Jahr zum Heidelberger Stückemarkt eingeladen wurde. Und dann folgte ihr Stück „Mädchen in Not“, uraufgeführt im Mai letzten Jahres am Nationaltheater Mannheim.
5. Ernst Lubitsch Stummfilm „Die Puppe“ aus dem Jahr 1919, von dem schon die Rede war, beruht auf Alfred Maria Willners deutscher Übersetzung der französischen Operette „La poupée“ von Edmond Audran, frei nach Motiven von E.T.A. Hoffmanns Nachtstück „Der Sandmann“. Im gleichen Jahr 1919 veröffentlicht Sigmund Freud in dem Essay „Das Unheimliche“ seine psychoanalytische Lektüre von E.T.A. Hoffmanns „Der Sandmann“. (Über diesen Zusammenhang kann Elisabeth Bronfen sprechen.) Vergegenwärtigt man sich die Handlung des Films, werden zahlreiche Parallelen - bis hin zu wörtlichen Zitaten - zu Anne Leppers Stück „Mädchen in Not“ deutlich:
Baron de Chanterelle ist dem Tode nah, er möchte verhindern, dass sein Geschlecht ausstirbt und verkündet, dass alle Jungfrauen des Dorfes zusammenkommen mögen, damit sich sein Neffe Lancelot unter ihnen eine Ehefrau aussuchen kann. Lancelot, der unter keinen Umständen heiraten will, wird von 40 heiratswilligen Jungfrauen durch das ganze Dorf verfolgt, kann sich verstecken und entkommt in ein Kloster zu Mönchen. In der Zeitung lesen die Mönche einen offenen Brief des Barons an Lancelot, er möge doch zurückkehren und heiraten, dafür bekäme er 300.000 Francs. Die Mönche überzeugen Lancelot, wenn schon keine Frau, dann doch eine Puppe vom Puppenmacher Hilarius zu heiraten. Der Puppenmacher baut gerade eine Puppe nach dem Ebenbild seiner Tochter Ossi. Und während Lancelot sich ein Dutzend täuschend echter Puppen zeigen lässt, tanzt der Lehrling des Puppenbauers mit der neuen Puppe und zerbricht den Arm; Ossi hat Mitleid mit ihm und bietet sich an, so lange die Puppe zu spielen, bis der Arm wieder repariert ist. Die vorgeführten Puppen haben Lancelot allesamt nicht gefallen, er will eine mit Charakter haben, deshalb zeigt der Puppenmacher ihm die neue Puppe, in Wirklichkeit also die echte Ossi. Lancelot kauft sie, erhält ein Puppenhochzeitskleid, die Gebrauchsanweisung und Ratschläge zur Pflege der Puppe. Die Hochzeit zwischen Lancelot und Ossi findet statt, Ossi spielt ihre Puppenrolle gut, er bekommt das versprochene Geld und geht mit Ossi zum Kloster. In seiner Schlafstube benutzt Lancelot sie als Kleiderständer und träumt nachts, dass Ossi lebendig sei. Als er erwacht, beteuert Ossi ihm, tatsächlich zu leben – aber Lancelot glaubt es erst als sie vor einer Maus erschrickt. Gemeinsam fliehen sie aus dem Kloster, fallen sich glücklich in die Arme und küssen sich.
In ihrem Stück „Mädchen in Not“ spielt Anne Lepper mit zahlreichen Motiven aus diesem Film, verkehrt sie, dreht sie um: Baby hat zwei Männer, Franz und Jack, einen offiziellen und einen inoffiziellen, einen Mann und einen Liebhaber. Doch sie will nicht mehr so wie früher. So wie sie gelebt hat, will sie nicht mehr weiterleben. Haus und Kinder möchte sie nicht mehr, vor allen aber keinen echten Mann. Mit dem wiederholt sich doch immer alles wieder nur. Die gleichen Wünsche nach Haus und Kinder. Sie lässt sich nicht mehr zurichten vom Willen anderer. Einem echten Mann bleibt sie doch bis zu einem gewissen Grade immer untergeordnet. Sie ist nicht mehr einverstanden. Ab sofort bestimmt sie selbst. Sie trennt sich von beiden Männern, gibt ihr Doppelverhältnis auf. Sie träumt davon, ihr eigenes Leben zu führen. Ab jetzt macht sie, was sie will: Sie will mit einer Puppe als Mann nach Italien. Und wendet sich vergeblich an die „Gesellschaft der Freunde des Verbrechens“ auf dem Schloss Lacoste mit der Frage, ob sie hier eine Puppe als Mann bekommen kann. Doch die Suche gestaltet sich schwierig. Baby kann sich ihr Leben ohne Puppe als Mann nicht mehr vorstellen und unternimmt einen Selbstmordversuch im Gasherd. Im Traum erscheint Baby der beste Puppenmacher der Welt, Duran-Duran, der ihr im Traum eine Puppe macht. Baby kauft bei Duran-Duran eine schöne heterosexuelle Puppe als Mann und führt mit ihr zunächst ein selbstbestimmtes Leben. Bald beschwert sie sich bei Duran-Duran: Sie hat sich das Leben mit einer Puppe himmlischer vorgestellt als das mit einem echten Mann. Die Puppe ist ihr zu echt. Sie tut nichts. Wieder will sie sich das Leben im Gasherd nehmen. Wenn sie nur eine zweite Puppe als Mann hätte. Das Leben wäre aufregender. Man könnte zu dritt nach Italien fahren. Das Leben mit zwei Puppen als Männer könnte wunderschön sein. Sie kauft eine zweite Puppe. Aber sie ist genauso wenig echt wie die erste. Es sind Jack und Franz, Mann und Liebhaber, das Doppelverhältnis, die sich von Duran-Duran haben zu Puppen machen lassen. Sie hatten sich überlegt, was wäre, wenn das Schule machte und jede Frau nur noch Puppen als Männer wollte: Nie wieder wären Jungfrauen hinter ihnen her. Sie würden aussterben. Sie hatten festgestellt, dass man künstlich werden muss wie eine Puppe, wenn man Baby vom Mann im Allgemeinen überzeugen will. Die Intrige endet schlecht für sie.
Die Anspielungen des Stückes „Mädchen in Not“ in die Bereiche Literatur, Film und Musik sind wie bei allen Stücken Anne Leppers sehr reich und disparat: Neben dem Stummfilm von Ernst Lubitsch, mag man an Ibsens „Nora oder ein Puppenheim“ denken, an die Italienflucht und Verkleidung als Automaten in Büchners „Leonce und Lena“; der Selbstmord im Gasherd verweist auf verschiede Texte von Heiner Müller, in denen er immer wieder auf den Selbstmord seiner Frau Inge Müller zurück kommt, das Schloss spielt auf Kafka an, das Schloss Lacoste gemahnt an das Chateau des Marquis de Sade; dass Babys Freundin Dolly ohne ihr Wissen in andere Umstände kommt, erinnert an Heinrich von Kleists Novelle „Marquise von O.“, der Puppenmacher Duran-Duran verweist nicht nur auf die britische Musikgruppe, sondern vor allem auf die Figur des Bösewichts Durand Durand aus dem Sience-Fiction-Film „Barbarella“ aus dem Jahr 1968; und auch auf das Musikvideo zu Cyndi Laupers Song „Time After Time“ wird hingewiesen.
6. In Laufe des schönen, langen, intensiven Abends am 21. September 2012 haben wir ganz bestimmt, ich müsste mich sehr täuschen, auch über den amerikanischen Illustrator, Kinderbuchautor und Bühnenmaler Maurice Sendak gesprochen, wahrscheinlich über sein Kinderbuch „Wo die wilden Kerle wohnen“, über das anarchische: „Und jetzt“, rief Max, „machen wir Krach!“ Sendak schreibt über Kinder: „ Ich glaube, man kann alles für Kinder schreiben, viel freier als für Erwachsene, denen man zu viele Lügen erzählen muss“. Und vorletzte Woche, ein, zwei Tage nachdem klar war, dass ich die Laudatio auf Anne Lepper halten darf, kam abends meine 5-jährige Tochter Paula mit einem Buch in der Hand zu mir und bat mich, es ihr vorzulesen. Ich kannte es nicht. Es war das Buch „Higgelti Piggelti Pop! Es muss im Leben mehr als alles geben. Geschichte und Bilder von Maurice Sendak“. Ich begann vorzulesen und mir wurde schlagartig klar, dass der Ausgangs- und Endpunkt dieses Kinderbuches die Grundzüge und die Folie der Handlung von Anne Leppers Stück „Entwurf für ein Totaltheater“ bildet. Wundern tut es mich nicht. Überhaupt nicht. Es begeistert mich! Und diese kleine Entdeckung wollte ich heute nicht vorenthalten.
Jennie, die Hündin, hat alles. Einen Herrn, der sie liebt. Zwei Fenster, zwei Kissen, zwei Schüssel, einen roten Wollpullover, Augentopfen, Ohrentropfen, zwei verschiedene Fläschchen mit Pillen und ein Thermometer. Sie geht trotzdem fort in die weite Welt. Weil sie unzufrieden ist. Sie wünscht sich etwas, was sie nicht hat: Es muss im Leben mehr als alles geben! An der nächsten Straßenecke trifft sie auf ein kleines Schwein, das ein Plakat mit einer Anzeige trägt: „Schauen Sie sich nach etwas anderem um? Gesucht! Hauptdarstellerin für Frau Hules Welttheater! Wer Erfahrung hat, melde sich.“ Jennie möchte diese Hauptdarstellerin in Frau Hules Welttheater werden. Das Schwein fragt, ob sie auch Erfahrung habe? Wie viel Zeit sie habe, um so etwas zu bekommen, fragt Jennie. Bis zur Vollmondnacht, lautet die Antwort. Der Mond ist schon fast voll. „Das schaffe ich nie“, sagt Jennie. Zuletzt schafft sie es doch: Sie macht Erfahrung an dem fürchterlichsten Ort, in dem großen weißen Haus außerhalb der Stadt, zu dem sie der Milchmann bringt, und wird Hauptdarstellerin in Frau Hules Welttheater, in der Neueinstudierung des Stückes „Higgelti Piggelti Pop!“: Fräulein Jennie als der Hund. – Und die letzten 14 Seiten des Kinderbuches zeigen dann Szene für Szene die Bühnenhandlung des Stückes, mit Jennie als Haupdarstellerin. Zwischen zwei Säulen mit einer lachenden und einer weinenden Maske. Und diese 14 Seiten haben sich mir – wie der Vorspann zu Ernst Lubitschs Film „Die Puppe“ – als zweites Sinnbild eingebrannt, eine einzigartig schöne Hommage an das Theater, seine Kraft, seine Einfachheit, auf die Anne Leppers Stücke immer wieder Bezug nehmen. „Es muss im Leben mehr als alles geben.“ Mehr als alles. Dieser Satz der Hündin Jennie oder der Figur Bonnie aus Anne Leppers Stück ist das Fundament für ihren „Entwurf für ein Totaltheater“. Das „Mehr, mehr!“, schrie der kleine Hävelmann“ von Theodor Storm kommt auch darin vor. Und die Uraufführung dieses tollen Stückes steht bis heute noch aus!
7. Worüber heute noch hätte gesprochen werden müssen: die besondere Rolle der Musik in den Stücken von Anne Lepper; die irritierende Funktion ihrer unterschiedlichen Chöre zum Beispiel. Anne Leppers Stücke entstammen keiner Schule, ihnen liegt kein Rezept zugrunde, sie gehorchen keinesfalls dem Betrieb, sie verfolgen keine Ideologie. Sie sind singulär. Sie verdanken sich einer Notwendigkeit, einer Wut und einer Lust.
8. Mit Robert Walser, Ernst Lubitsch und Maurice Sendak habe ich heute kurz auf einige Wahlverwandte von Anne Lepper hingewiesen. Einen weiteren (vielleicht erst zukünftigen) Wahlverwandten, der zumindest für mich unbedingt in diese Reihe gehört, möchte ich heute als eine kleine Gabe für diese Feierstunde hinzufügen: Ernst Herbeck. Erlauben Sie mir einen seiner Texte, der sich schon im Titel mit einem von Anne Leppers zentralen Themen beschäftigt, vorzulesen: Ernst Herbeck,
„Der Einzellne und die Gesellschaft
10 Thesen
1. Der Einzellne ist meistens allein, und wenn er sich in Gesellschaft befindet, ist er Gesellschafter.
2. Er trinkt gerne Wein und Bier und Coca-Cola, und das sehr gerne, und wenn, dann ist er eingeladen.
3. Er ist ein Zeitvertreiber und spricht auch etwas viel. und das sehr gut. und mit dem Tanzen ist es mit ihm schlecht bestellt.
4. Ein Affe ist auch ein Einzellner. Wenn er sich auf dem Baum befindet, ist er meistens allein. Er sucht sich mehrere Affen, dann ist er nicht mehr allein im heißen Afrika.
5. Der Einzellne hat schon ein Auto und gründet eine Familie, eine Gesellschaft, er verdient und kauft sich bessere Sorten Zigaretten.
6. Ein schöner Hase ist meistens der Einzellne. Er sucht sich einen Anhang, eine Familie. Bis sie im Herbst erschossen werden.
7. Die Gesellschaft ist im Gasthaus oder in einem Wirtshaus anzutreffen.
8. Die Schnapser bilden auch eine Gesellschaft, ein Blatt sozusagen. Sie spielen von 24 herunter nach Bummerln. Und wer gewinnt, der hat sie.
9. Der Einzellne ist auch ein Elefant, er geht auch in einer Gesellschaft und ziehen in Rudeln gemeinsam. Der Einzellne wird meist abgeschossen.
10. Der Einzellne ist auch ein Hecht. und wenn er raubt, dann in einer Gesellschaft. Er wird gerne gegessen von einer Gesellschaft. Bei einer Hochzeit und so. Und auch wenn der Einzellne Geburtstag hat. Der Einzellne ist ein Weihnachtsbaum, er steht im Walde.“
9. Und zum Abschluss vielleicht nun ein paar Zeilen aus Iggy Pops Song „I Need More“, den Anne Lepper in ihrem „Entwurf für ein Totaltheater“ zitiert - als dringender Appell an Anne Lepper, als tiefer Wunsch an sie:
“more truth
more intelligence
ha ha
more future
more laughs
more culture
don´t forget adrenaline
more freedom”
Das alles brauchen wir weiterhin von Dir! Das alles wünschen wir uns dringend auch von Deinen nächsten Stücke. Das Theater benötigt sie zum Leben. Überleben.
Ganz, ganz herzlichen Glückwunsch zum Mülheimer Dramatikerpreis 2017, liebe Anne!
Jan Hein
Mülheim an der Ruhr, den 18.6.2017