4. Juni 2017 •
Applaus! Um 21 Uhr senkt sich der letzte (imaginäre) Vorhang im Theater an der Ruhr und beschließt die Präsentation der eingeladenen Stücke. Das war’s! Die sieben eingeladenen Inszenierungen haben für Diskussion, Begeisterung und Verwunderung gesorgt. Doch abgeschlossen sind die 42. „Stücke“ damit nicht. Die Mülheimer Theatertage sind ein Wettbewerb und so folgt zu später Stunde noch die Jurydebatte. Einzigartig in der deutschen Theaterlandschaft: Diskutiert wird auf dem Podium, das Publikum ist live dabei. Die Debatte wird gewissermaßen zum achten Stück des Festivals. Vor glitzerndem Vorhang, der aus der zuletzt gezeigten Inszenierung noch auf der Bühne hängt, diskutieren die Jurymitglieder über die sieben Wettbewerbsbeiträge - zeitweise ähnlich emotional und langatmig, humorvoll und ernst wie die Stücke selbst.
Zu Beginn blickt Kritikerin Cornelia Fiedler, die als Sprecherin des Auswahlgremiums Teil der Jury ist und so die Brücke zwischen den beiden Gremien bildet, auf die diesjährige Saison zurück. 142 Stücke wurden gesichtet. Berücksichtigung fanden verstärkt auch solche, die einen performativen Schwerpunkt haben. Auch in Punkto Deutschsprachigkeit wurden die Regeln angepasst. Doch das Kernkriterium blieb bestehen: Es muss einen geschriebenen Stücktext geben. Als Trends der diesjährigen Saison macht Fiedler Generationenporträts und Dystopien aus. Selbstverständlich betont sie die hohe Qualität und stellt fest, dass es ein eher junger Jahrgang sei. Das altehrwürdige Theater sei am Puls der Zeit und reagiere schnell auf gesellschaftliche Tendenzen.
Dann wird es langsam spannend. Jede:r Juror:in fasst ein Stück des diesjährigen Wettbewerbs zusammen. Um Ausschweifungen zu Beginn der Debatte einzudämmen, hat Michael Laages, der nach den Publikumsgesprächen auch die Jurydebatte in geordneten Bahnen halten soll, aus dem „Paläozoikum des deutschen Rundfunkwesens“ eine Studiostoppuhr mitgebracht. In zwei Minuten pro Stück werden alle Zuhörer:innen auf denselben Stand gebracht. Im Anschluss sollen aus den sieben Stücken vier werden, die dann das Rennen unter sich ausmachen. Es gilt das Ausschlussprinzip. In der ersten Runde benennen die Juror:innen je drei Stücke, die aus dem Wettbewerb ausscheiden sollen.
O-Ton-Montage versus Dramatik
Nach kurzem betretenen Schweigen wagt Kritiker Wolfgang Kralicek einen ersten Vorstoß. Bei Empire stelle sich wesentlich die Frage nach der Autorschaft. Aus O-Tönen einen Text zu montieren, disqualifiziere Milo Rau für einen Dramatikerpreis. Das sitzt! Autorin Kathrin Röggla erwidert, dass dies die Arbeit Milo Raus klein mache. Sie sehe im Text eine intensive Verdichtung von Material, es gehe nicht um authentische Erzählungen, sondern um die Zueinanderführung und Montage von Motiven. Sie halte die Frage nach Ko-Autorschaft für nicht zielführend. Auch bei Jelinek könne man die Medien als Ko-Autoren nennen. Es entwickelt sich ein Streitgespräch zur Grundsatzfrage, was ein literarischer Vorgang ist. Nach und nach schalten sich alle Juror:innen ein.
Michael Laages hatte schon zuvor vermutet, dass Ko-Autorenschaft signifikant für die heutige Zeit sei. Bestätigt sieht er das etwa durch die Arbeit an Biographien durch Regisseure wie Milo Rau oder Nicolas Stemann. Letzterer bezeichnete sich selbst beim Publikumsgespräch als Ko-Autor Jelineks. Die Juror:innen sind sich einig, dass Regisseur:innen grundsätzlich Ko-Autoren seien und der Text sich sowieso erst in der Aufführung realisiere. Was aber eigentlich nichts Neues sei.
Schon in der Diskussion um Empire wird deutlich: Objektive Kriterien gibt es in der Diskussion nicht. Was für den einen Juror als erstes den Wettbewerb verlassen soll, ist der Favorit einer anderen. Für die eine wird das Stück erst interessant, wenn es nachgespielt wird, für eine andere muss das Stück ausgeschlossen werden, weil es auf gar keinen Fall nachspielbar sei und die Biographien nur durch die zugehörigen Schauspieler gesprochen werden könnten. Auch wird klar, dass hier völlig konträre und nicht zu diskutierende Theaterverständnisse gegeneinander stehen, was in der Diskussion immer wieder zu so faszinierenden Plattitüden wie der des „ersten Gebots“ von Regisseurin Claudia Bauer führt: „Ein zeitgenössischer Theatertext muss welthaltig sein, er sollte die Wirklichkeit nicht nur abbilden, sondern eine Gegenwelt formen.“
Sprachlich wenig aufregend
Die Diskussion um Empire wird im Verlauf der Debatte noch einige Male auflodern. Es scheint das kontroverseste Stück zu sein. Doch auch die zweite Negativ-Nominierung von Kathrin Röggla entfacht ein Streitgespräch: Die Vernichtung von Olga Bach. Laut Röggla ein vorhersehbares Stück, welches dem allgemeinen Klischee der Verrohung entspreche und noch dazu sprachlich nicht besonders aufregend sei. Auch die Inszenierung wird thematisiert, sie sei mit Wucht über den Text gefahren.
Diesmal ist es Kralicek, der widerspricht: Die Vernichtung ist in seinen Augen eines der stärksten Stücke, welches mitnichten klischeehaft und vorhersehbar sei. Er lobt den sprachlich formalen Stil, der straight und schnell sei, und hebt die Verschränkung der Szenen hervor. Problematisch sieht er allerdings die Inszenierung, die das Stück einfach nicht inszeniert habe. Das Problem der Untrennbarkeit von Inszenierung und Text kommt in der Diskussion immer wieder auf. Aber anstatt einen einheitlichen Umgang mit dieser Problemstellung für den Wettbewerb zu diskutieren, hält man sich nicht weiter auf, sondern diskutiert weiter fröhlich nach subjektivem Empfinden und persönlichen Vorlieben.
Realistische Erzählung ohne Kontext
Dramaturgin Marion Hirte nominiert Vereinte Nationen (das Stück gebe sich als psychologischer Realismus aus, bleibe dabei aber merkwürdig ungenau). Sie sieht eine realistisch geschilderte Erzählung, die ohne Kontext bleibe und somit eine pauschale Setzung sei, die nicht funktioniere. Kein Widerspruch aus der Runde. Die fünfköpfige Jury (vier sind Frauen) reibt sich noch an der Figur der Mutter. Fest steht: Vereinte Nationen verlässt einstimmig den Wettbewerb.
Es wird noch über Jelineks Wut diskutiert, das laut Fiedler im Gegensatz zu anderen Jelinek-Texten keine direkte Kraft entwickle. Kralicek hingegen findet genau dies spannend am Text. Es werden ein paar Worte zu „der thermale widerstand“ verloren. Und europa verteidigen ist für Kathrin Röggla ein „Agitprop-Stück im Google-Universum“. Dann wird nochmal die Diskussion um Olga Bachs Vernichtung angefacht. Authentizität wird als Kriterium in Frage gestellt und Bauer exklamiert mehrfach ihr zweites Gebot: Sie will überrascht werden. Doch summa summarum steht das Negativ-Votum. Michael Laages verabschiedet Empire, Die Vernichtung und Vereinte Nationen aus dem Wettbewerb. Kathrin Röggla versucht ein letztes Mal ihre schützende Hand über Empire zu legen - vergeblich.
Warme Worte
Und plötzlich geht es ganz schnell. Die beiden Stücke, die für die meiste Diskussion gesorgt haben, sind raus. Da weder europa verteidigen noch der thermale widerstand auf den Favoritenlisten der Juror:innen stehen, werden noch ein paar warme Worte für die beiden Stücke verloren. Die Entscheidung aber fällt zwischen Jelineks Wut und Mädchen in Not von Anne Lepper. Röggla und Kralicek, die sich in der ersten Hälfte lautstark an der Diskussion beteiligt haben, sind nun nahezu verstummt. Es herrscht Einigkeit und so reicht schon eine Abstimmung, die mit dem deutlichen Votum vier zu eins für Mädchen in Not ausgeht. Gelobt werden die intertextuellen Bezüge neben der comichaften Sprache, die Wendungen und Überraschungen in Narration und Figuren. Der mit 15.000 Euro dotierte Preis, Ruhm und Ehre gehen an Anne Lepper.
Der pragmatische Abstimmungssmodus führte zu einem Konsens, mit dem alle irgendwie zufrieden sind. Begeisterung kommt nochmal auf, als Festivalleiterin Stephanie Steinberg kurz vor Mitternacht den Gewinner des Publikumspreises verkündet: Konstantin Küsperts europa verteidigen macht das Rennen vor Raus Empire. Der anwesende Autor und das Ensemble freuen sich lautstark.
Wir Blogger:innen gratulieren ganz herzlich den Gewinnern und allen eingeladenen Autor:innen. Es war ein unterhaltsames Festival.