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Quälendes Theater


Kritik

Milo Rau erreiche ich zu Hause. Die Sprachmelodie seines Schweizer Akzents macht ihn sofort sympathisch.

Sie sind mit „Empire“ zu den diesjährigen „Stücken“ eingeladen, einem Festival für deutschsprachige Gegenwartsdramatik. Was bedeutet Ihnen die Einladung?

Er zögert. Ja, schwierig zu sagen. Ich freu mich natürlich über die Einladung, klar. Gleichzeitig denke ich, weil ich aus einem weniger arbeitsteiligen Kontext komme, eben aus der Freien Szene, die auch international tourt („Empire“ ist in 30 Ländern gelaufen), ist deutschsprachige Dramatik für mich ein etwas überholter Begriff. Ich würde eher sagen Europäische Dramatik. Er lacht. Vielleicht kann man Mülheim ja umbenennen, dann pass ich auch noch besser rein, zumal in der Europa-Trilogie allein über elf Sprachen vertreten sind. Gerade weil es so viele Sprachen sind, freut mich die Entscheidung der Jury, das Stück („Empire“ ist der dritte Teil der Trilogie“, Anm. der Red.) einzuladen und damit den Begriff des Deutschsprachigen zu erneuern. Das gefällt mir.

Haben Sie Theatervorbilder?

Meine Vorbilder kommen aus dem Film, aus der Literatur und aus dem Theater. Ich bin als 12-jähriger Junge nicht ins Theater gegangen und dachte: „Wow, das will ich auch machen!“ Es war eher so: Ich bin ins Theater gegangen und dachte: „Das ist ja wirklich quälend, was hier abgeht.“ Er lacht laut. Ich muss zugeben, dass ich zur großen Mehrheit der Jugendlichen gehöre, die nicht das Glück hatten, zufällig in eine gute Vorstellung zu kommen. Normalerweise wird man ja in „Der Besuch der alten Dame“ oder ein Ionesco-Stück gezwungen und dann leidet man einfach.

Ihre Biographie lässt auf den ersten Blick nicht vermuten, wie sie zum Theatermacher geworden sind: Sie haben Germanistik, Soziologie und Romanistik studiert und waren als Journalist und Autor auf Reportage-Reisen unterwegs. Wie sind Sie zum Theater gekommen?

Eher zufällig. Als ich 22 war, bin ich nach Berlin gezogen, als Korrespondent der Neuen Züricher Zeitung. Meine damalige Freundin hat eine Schauspielausbildung bei der Ernst Busch Schule gemacht. Zu der Zeit habe ich angefangen, mit den Schauspielern dort zu arbeiten und auch eigene Stücke zu schreiben, tatsächlich auch auf Deutsch. Aber vielleicht können wir diese beschämende Tatsache unterdrücken. Er lacht. Ich habe seitdem immer Theater gemacht, habe auch Filme gedreht und war politisch aktiv. Die griechischen Tragödien haben bei mir damals schon eine große Rolle gespielt, einige habe ich aus dem Altgriechischen selbst übersetzt, vor allem Aischylos und Euripides.

Der Bezug zur Antike wird ja auch in Empire ganz deutlich, wenn zum Beispiel der griechische Darsteller Akillas Karazissis aus Der Orestie rezitiert. Sind die Stückeschreiber der Antike, die wir heute bewundern, die Theatertradition, in deren Fortschreibung Sie sich mit Ihren Arbeiten einordnen würden?

Jetzt kommt er in Fahrt, zitiert quer durch tausende Jahre von Kulturgeschichte. Ich habe das Gefühl mit einem Menschen zu sprechen, der weniger versucht, Fragen zu stellen, sondern vielmehr nach Antworten sucht.

Das Interessante ist ja, dass die griechischen Tragödien ein Theater geschrieben haben, von denen jeder, der sie anschaute, wusste, worauf sie verweisen: nämlich beispielsweise auf den Peloponnesischen Krieg. Die griechischen Tragödien – das war ja der totale Krieg. Das war ein Tatort, der aus der kollektiven Mitte, aus dem kollektiven Erleben und den kollektiven Mythen herausgeschöpft hat, während das bürgerliche Theater nicht aus dieser Kollektivität schöpft, sondern aus einer Sprachspielerei, aus einer privaten Sensibilität, was auch seine Schönheit hat. Ich finde aber schon, dass der Moment gekommen ist, zurückzugehen zum Epischen, was auch Brecht versucht hat. Die Griechen haben kein Theater geschrieben, das im eigentlichen Sinne interessant war, sondern sie haben allegorisch Menschen und Helden auf die Bühne gestellt, die jeder hätte sein können. Sie haben versucht, ein Theater zu machen, das die großen Antagonismen ihrer Zeit verhandelt hat. Niemand hat sich gefragt, was Agamemnon wohl gefühlt hat, als er von seiner Frau am Anfang der Orestie hingerichtet wird. Was wirklich interessierte, waren die großen Bewegungskräfte des Humanen angesichts einer übermächtigen Geschichte, die undurchdringlich bleibt. Diesem griechisch-tragischen Ansatz fühle ich mich tatsächlich sehr verwandt.

Wir sprechen über den langen und intensiven Casting- und Probenprozess von Empire. Milo Rau bezeichnet sich selbst als manischen Caster. Ich frage ihn, ob er sich jemals schuldig gefühlt hat, wenn man bedenkt, wie viel Realität er auf der Bühne zeigt, zum Beispiel in Bezug auf die Bilder der Folteropfer aus Syrien in „Empire“. Er verneint. Schließlich kommen wir auf die „Europa-Trilogie“ zu sprechen. Sie beschreibe eine Bewegung im Raum, vom Westen („The Civil Wars“, 2014) hin zum Zentraleuropäischen („The Dark Ages“, 2015) in den Osten Europas („Empire“, 2016). Es sei eine Durchquerung gegen die Zeit, weil Europa eigentlich aus dem Zweistromland über Griechenland nach Zentraleuropa gewandert ist, quasi eine gegenläufige europäische Geschichte von heute in die Vergangenheit

Wenn Sie gezwungen wären, Ihre Trilogie um einen vierten Teil zu ergänzen, wie würde der aussehen?

Es gibt diesen vierten Teil für mich schon. Das ist „Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehrs“ (aus Interviews mit NGO-Mitarbeitern, Geistlichen und Kriegsopfern in Afrika schafft Milo Rau hier eine Arbeit, die sich thematisch mit der Mittelmeerroute der Flüchtlinge aus dem Nahen Osten und dem kongolesischen Bürgerkriegsgebiet auseinandersetzt, Anm. d. Red.).

Mitten im Redefluss wechselt Milo Rau in die persönliche Ansprache, so selbstverständlich, dass ich das Du fast überhört hätte.

Vielleicht weißt du, dass die griechischen Tragödien Tetralogien waren, drei Tragödien und das Satyrspiel als vierter Teil. Das Satyrspiel zeichnet sich dadurch aus, dass es immer kritisch über das Thema der Trilogie reflektiert und das sind dann bei mir folgende Fragen: Was ist Zeugenerzählung? Was ist Erzählung des Schauspielers? Gibt es Mitleid mit der Figur oder mit dem Erleben? Und jetzt klingelt, glaube ich, meine kleinere Tochter.

Für eine Minute herrscht Stille, Stimmen im Hintergrund. Dann erzählt er, dass seine Töchter gerade Zeichnungen verkauft hätten und sich über das verdiente Geld freuten. Mehr an Privatem gibt es nicht. Nahtlos setzt er an seinem zuletzt gesprochenem Satz ein. Immer mehr erscheint er mir als ein Mensch, der von einem inneren Denkimpuls vorangepeitscht wird. Obwohl er in seinen Antworten ausschweift, scheint er sehr genau zu wissen, wohin seine Gedanken zielen. Er sucht nicht, er findet. Er spricht so lange weiter, bis er den Denkprozess, in den ihn ein Gedanke geworfen hat, exakt formulieren kann. Und wenn dann doch eine Frage am Ende seines Sprechens liegt, so spricht er sie aus, als sei sie eine Antwort. Ist Milo Rau Perfektionist? Wenn ja, gibt es für ihn so etwas wie ein perfektes Gegenstück im Zuschauerraum?

Gibt es so etwas wie einen idealen Zuschauer für ein Milo Rau-Stück?

Ich glaube, dass das Zuschauen gleich schwere Arbeit ist wie das Spielen, dass es eine Partnerschaft ist. In vielen Inszenierungen herrscht ja ein gewisser horror vacui vor, der von der Angst bestimmt ist, dass der Zuschauer in die Langeweile des Konsumenten fällt. Ich zwinge den Zuschauer dazu, die Langeweile zu durchqueren, Ich glaube, meine Stücke sind darauf angewiesen, dass diese kollektive Hypnose hergestellt wird, in der sich jemand auf etwas einlässt. Deshalb bin ich auch gegen partizipatives Theater, in denen die Zuschauer rumhopsen oder einen Audiowalk machen müssen. Ich glaube, und das glaube ich auch für mich, dass man von seiner eigenen Sterblichkeit und der Zufälligkeit der eigenen Biographie, ob sie jetzt unglücklich oder glücklich ist, nur in der Kollektivität des Menschlichen erlöst werden kann. Das ist im Zustand des Theaters die Gemeinsamkeit des Erzählens und des Zuhörens. Diese erlösende Kraft, die das Zuhören hat, schätze ich sehr.

Weil es gerade spirituell wird, wechsle ich schnell das Thema.

Wenn es einen Gott gibt, und Milo Rau steht ihm eines Tages gegenüber, was wird er vor Gott sagen?

Ich habe diese Frage schon vielen Menschen gestellt, aber noch nie kam eine Antwort derart aus der Pistole geschossen.

Es gibt dieses eine Zitat von Jeanne d'Arc. Ich kann es nur noch aus der Erinnerung rezitieren: Man soll nicht dafür sorgen, dass man selbst Gutes getan hat, sondern dass die Welt ein bisschen besser geworden ist. Und ich glaube, dass man das als Entschuldigung, zumindest für den Schwachsinn den man gemacht hat, bei Gott vielleicht vorbringen kann.

Ein herzhaftes Lachen begleitet den letzten Satz. Ist Milo Rau etwa ein Weltverbesserer?

Wenn du dich in der Rolle des Weltverbesserers siehst, warum bist du Theatermacher geworden und nicht etwa Politiker?

Hatte ich das Gefühl gerade eine andere Seite von ihm kennenzulernen, erscheint er mir jetzt wieder als der kritisch reflektierte, aber doch im professionellen Medienumgang geübte Theatermacher vom Anfang des Interviews.

Ich glaube nicht, dass im politischen Raum die Politik wirklich stattfindet. Ich glaube, dass aktuell, und das ist wirklich bedauerlich, tatsächlich in anderen Konzepten, die parallel zur Politik laufen, Solidaritäten und Kollektive hergestellt werden, die Räume schaffen, die utopisch sind. Heute Politiker zu sein heißt eigentlich, aufhören zu denken.

Er verweist mich jetzt auf die Uhrzeit und dass er jetzt wirklich einkaufen gehen müsse, weil heute Abend seine Schwiegereltern zum Grillen vorbeikämen. Also los! Vielleicht lässt er sich doch noch überraschen.

Wenn Milo Rau sich aussuchen könnte, wie er stirbt, wie würde er sterben?

Er antwortet prompt. Wie alle Feiglinge würde ich gern hinterrücks erschossen werden, ohne, dass ich es merke oder erwartet hätte.

In einem anderen Interview hast du in Bezug auf deine Arbeit gesagt: „Ist schon toll so zu arbeiten, wenn die Sinnfrage, die einen Existentialisten ja umtreibt, weg ist.“ Sind deine Stücke Vermeidungsstrategien des Menschen Milo Rau, sich der eigenen Sinnfrage nicht stellen zu müssen?

Er gerät tatsächlich kurz ins Stocken und fängt an, nach einer Antwort zu suchen. Habe ich ihn etwa nervös gemacht oder ist es nur ein kurzes Zittern?

Kann sein, da müsste ich länger nachdenken. Das ist ja fast schon die Beschreibung eines Krankheitsbildes, der manisch-depressiven Persönlichkeit. Ich glaube schon, dass das ein Grundproblem der Praxis ist, wenn man etwas macht, das einen zufrieden macht, das einen am stärksten affiziert. Ich schaue, während wir sprechen, durchs Fenster und sehe meine Kinder im Garten herumschaukeln und sie haben einfach Spaß am Tun. Also, dass das Spielen, Arbeiten und Leben, wie das für Kinder oft ist, zu einer Einheit wird. Gleichzeitig muss ich sagen: Wenn man das Leiden an der Ungerechtigkeit, an der Tödlichkeit vieler Weltverhältnisse verliert, dann befindet man sich in einem esoterischen, unwahren Raum. Ich bin nicht der Künstler, der dann Yoga macht und Tragödien inszeniert mit Bachmusik und sich gut dabei fühlt.

Autor Sebastian Bös gehörte zum Blog-Team 2016.