Fabelhaftes Zeugs


Diskurs

Mülheim hat seinen ersten großen Gewinner: Milan Gather erhält den KinderStückePreis 2022 für sein Stück „Oma Monika – was war?“. Ein starker Jahrgang, wie das Auswahlgremium alljährlich betont. Nun standen fünf Stücke in der Endauswahl, deren Form und Inhalt unterschiedlicher kaum sein konnten: Eine Neuschreibung der griechischen Mythologie, ein Mehrgenerationen-Stück, ein lehrhaftes Umkehrungsstück, ein Gender-Stück und ein Identitäts-Stück. Bei dem einen wird gereimt, bei dem anderen mit Alliterationen gefeuert und bei einem dritten zwischen Zeit und Raum wild umher gesprungen. Die Wahl des Preisträgers ist vertretbar, ein berührender Text, dessen Inszenierung einem spürbar nahe geht. Doch die Jurydebatte hinterlässt Fragen und auch ein bisschen Unmut – welches Zeichen sendet die Jury damit eigentlich?

Am Ende fällt die Entscheidung einstimmig. Die eigentlich als Debatte verstandene Juryzusammenkunft ist geprägt von langen Monologen, wenig Dialog und noch weniger Widerspruch. Es herrscht von Beginn an grundsätzliche Einigkeit, man stimmt einander zaghaft zu, Gegenrede quasi nicht vorhanden. Doch Potential für Reibungspunkte war da, die Möglichkeit gegeben, in eine wirkliche Diskussion miteinander zu gehen. Aber scheinbar hat sich niemand getraut, man wollte sich wohl nicht gegenseitig auf den Schlips treten. Die Moderation stellt keine Nachfragen oder regt zum Fach-Streit an. Wünschen wir uns nicht alle vielmehr eine lebhafte, kontroverse, energische Jurydebattenkultur?  

Die ersten beiden Stücke, die aus der finalen Entscheidungsrunde ausscheiden, sind zwei Texte, die den Puls der Zeit in sich schlagen lassen: „Der fabelhafte Die“ von Sergej Gößner und „Zeugs“ von Raoul Biltgen. Texte, die nach Identität, Fremdzuschreibung und Selbstbestimmung fragen. Die das Vieles- und Anderssein feiern und Lust machen, sich selbst – abseits jeder Norm und gesellschaftlichen Konformität – zu entdecken und dazu ermuntern, man selbst zu sein – „No matter what“. Zwei Stücke, die in der Jugendjury hoch im Kurs standen, von denen letztlich „Zeugs“ das Rennen machte. Auch die Reaktionen der Kinder in den Aufführungen waren völlig unterschiedlich – vom frenetischen Schlussapplaus bis zum gelangweilten In-die-Luft-starren ist alles dabei gewesen. Wieso bleiben diese Punkte in der Debatte unerwähnt?

Haben lustige, rotzige Texte keine Chance?

Es scheint sich eine Schlucht zwischen dem intellektuell-elitären Jurygespann und dem interessierten Publikum aufzutun. Erwachsene, die sich für ein Mehrgenerationen-Stück entscheiden. Aber darf Kindertheater nicht auch einfach mal Kindertheater bleiben? Kinderstücke, die nach Identität, Diversität und Selbstsuche fragen, finden keinen großen Zuspruch. Liegt es daran, dass drei erwachsene Menschen über diesen Preis entscheiden? Wieso besteht die Jury für den KinderStückePreis eigentlich nur aus drei Personen und die für den Dramatikpreis aus fünf Personen, obwohl die Höhe des Preises und die daraus resultierende Bedeutung dieselbe ist? Und ist es ein Zufall, dass die lustigen, komödiantisch-angehauchten, rotzigen Texte wieder mal keine Chance zum Gewinn in Mülheim haben? Wieso muss denn alles immer so furchtbar ernst sein? Der Spaßfaktor sagt doch nichts über die Tiefe des Charakters eines Stückes aus.

„Es gibt Worte, die bleiben“, heißt es in einem Song der Band Revolverheld. Was hier bleibt, ist vor allem die übergeordnete Frage: „Geht es nicht auch anders?“ Sollte die Besetzung und Größe der Jury und das Prozedere überdacht werden? Täte eine ambitioniertere, aktivere Moderation der Debatte gut? Und sollten die Auswahlkriterien transparenter und entschlossener kommuniziert werden? Man darf gespannt sein, wie die Jurydebatte für den Mülheimer Dramatikpreis kommenden Donnerstag verlaufen wird. Denn wer die Zukunft des Theaters mit dem Auge auf die Allerjüngsten im Blick hat, der sollte auch dementsprechend agieren. Und konstruktiv argumentieren können. Denn die Freude am Sich-überzeugen-lassen ist in demokratischen Prozessen doch eigentlich die schönste Freude.