21. Mai 2022 •
Bevor die Fachjury ihre Debatte – oder vielmehr ihren sanften Austausch von Meinungen – beginnt, vergibt zunächst die Jugendjury ihren Preis. Die fünf Jugendlichen widmen jedem KinderStück ein paar Sätze, in dem sie mit Mut zur Ehrlichkeit sowohl gut als auch weniger gut gelungene Aspekte aufgreifen. Am Ende mussten sie zwischen „Zeugs“ von Raoul Biltgen und „Der fabelhafte Die“ von Sergej Gößner wählen. Da in letzterem Stück die gereimte Sprache beim Lesen mehr Schwierigkeiten bereitete, geht der Preis – ein Pokal gefüllt mit Süßigkeiten und einem Stoffbären – an Raoul Biltgen.
Theresia Walser, die bereits im Auswahlgremium saß, reflektiert zum aktuellen Jahrgang der KinderStücke, die sie leidenschaftlich beschreibt als gefüllt mit gewagten Formen, die Spaß machen und nicht in die Falle des „Zeigefingergefuchtels der Belehrung“ tappen. Identität und Identitätsfindung hätten im vergangenen Jahr thematisch im Zentrum gestanden.
Den Juror*innen ist bei der kurzen Vorstellung der Stücke ihre Begeisterung deutlich anzumerken. Wenn sie sich in der nachfolgenden Diskussion widersprechen, tun sie das äußert unaufgeregt. Ein argumentativer Schlagabtausch oder starke Meinungsverschiedenheiten tun sich nicht auf.
Los geht es mit „Der fabelhafte Die“ von Sergej Gößner. Alexander Riemenschneider betont, dass der formstrenge Text durch die Übergänge in der Rollenverteilung Fluidität für Identität schafft. Dorothea Marcus fehlt in dem Stück allerdings ein Narrativ, das den Text zusammenhält und findet die Figuren zu oberflächlich. Walser zeigt sich begeistert von den ereignishaften Dialogen in „Zeugs“ von Raoul Biltgen. Sie gäben die Komplexität des Zurechtkommens mit sich selbst und anderen wieder. Marcus stimmt zunächst zu und lobt das „Alliterationsgewitter“ im Stück. „Die Sprache glitzert“, sagt sie. Das Stück komme jedoch zu lange nicht zum Punkt und entwickele dadurch Längen. Zu „Als die Welt rückwärts gehen lernte“, wünscht sich Walser Inszenierungen, in der die sprachlichen „Perlen“, die sich in den Regieanweisungen verstecken, ihren Weg auf die Bühne finden. Marcus hingegen sieht in dem Stück die größte Diskrepanz zwischen Text und Inszenierung, andere Stücke seien sprachlich besser ausgearbeitet. Dafür eröffne sich hier der Horizont des Begriffs „Identität“ in Richtung „Orientierung“ – wie könne man in dieser Welt Orientierung und seinen Platz finden? Juror Alexander Riemenschneider findet, die Referatssituation in „Die seltsame und unglaubliche Geschichte des Telemachos“ von Felix Ensslin und seinem Team liefere einen Erklärungsrahmen, der nicht nötig sei. Walser widerspricht: Die Referatssituation führe die Einsamkeit des Hauptcharakters Telemachos ein, und sie sei es auch, welche das Eintauchen in die Familiengeschichte anstoße. Am Stück „Oma Monika – was war?“ von Milan Gather lobt Marcus besonders, dass Oma Monika nicht auf eine demente Frau reduziert werde. Durch eine intensive Exploration ihrer Lebensgeschichte erhalte sie Tiefe. Riemenschneider stimmt zu. Statt eine Diagnose zu stellen, charakterisiere das Stück vielmehr eine Beziehung zwischen Enkel Balthasar und Oma Monika. Verfall und ein reiches Leben hielten sich die Waage. Walser sieht sogar eine gewisse Lust an der Identitätsauflösung und an der „Jonglage des Seins“.
Spannend wird es, als die Juror*innen je zwei Stücke benennen müssen, die aus dem Rennen um den mit 15.000 Euro dotierten Preis ausscheiden sollen. Äußert überraschend und zum Unverständnis mancher Zuschauer*innen scheidet „Der fabelhafte Die“ von Sergej Gößner mit drei von drei Stimmen direkt aus. Die Gender-Thematik hat die Jury wohl trotz ihrer Aktualität und Dringlichkeit nicht überzeugt. Auch der von der Jugendjury gerade noch gekürte Text „Zeugs“ von Raoul Biltgen muss sich verabschieden, weil Marcus und Walser ihn ausschließen – Riemenschneider stimmt als einziger für den Telemachos-Monolog von Ensslin & Co. Unter den Diskutierenden herrscht kurz Verwirrung darüber, welche der verbliebenen Kandidat*innen in diesem Jahr nicht nur ihr Mülheim-Debüt feiern, sondern auch mit ihrem Erstlingswerk nominiert wurden. Milan Gather wird fälschlicherweise beides zugeschrieben. Dieser war mit seinem Erstlingswerk, dem Jugendstück „Astronauten“, 2020 bereits zu mehreren Festivals eingeladen.
Moderator Sven Ricklefs lässt den Juror*innen nach dieser Vorauswahl nicht viel Zeit: Sie müssen direkt in die zweite Runde starten und einen Favoriten-Text wählen. Schnell ist klar, wie der Wettbewerb ausgehen wird. Auch wenn für „Als die Welt rückwärts gehen lernte“ und für den Telemachos-Monolog noch einmal Lob ausgesprochen wird, können sie sich doch nicht durchsetzen. Im Gewinnerstück sieht Riemenschneider die Vereinigung von Generationen. Walser, die betont, wie schwer ihr die Wahl fällt, zeigt sich hingerissen vom sprachmusikalischen Ausdruck der Zustände der Figuren im Stück und Marcus lobt die Beschäftigung mit Lebensgeschichten, -plänen und -visionen. Dem Autor sei „ein großer Wurf gelungen“. So geht der diesjährige Mülheimer KinderStücke-Preis einstimmig an „Oma Monika – was war?“ von Milan Gather.
Da der Autor selbst nicht anwesend sein kann, ist das Ende der Debatte etwas antiklimatisch: Nach einigen Abschlussworten der Festivalleiterin Stephanie Steinberg tauschen sich die übrigen Anwesenden noch draußen vor dem Theater bei Sekt und Orangensaft aus. Dafür, dass Sturmwetter gemeldet war, ist es doch erstaunlich ruhig geblieben.