20. Mai 2022 •
Mit „Der fabelhafte Die“ ist Sergej Gößner für den diesjährigen KinderStückePreis der Mülheimer Theatertage nominiert. Bereits 2019 war er mit einem Gastspiel in Mülheim, seinem Erstlingswerk „Irreparabel“. Darin geht es um zwei Jungs mit Behinderung und die Höhen und Tiefen einer intensiven Freundschaft – zwei liebenswerte Außenseiter durch und durch. Auch in „Der fabelhafte Die“, uraufgeführt von Kristo Šagor im Herbst 2021 am Jungen Theater Konstanz, geht es um das Vieles- und Anderssein und den Mut, den es braucht, sich abseits der Normen auszuprobieren und sich auf die Suche nach dem Leben zu machen, das man gerne führen möchte. Auch Sergej Gößner hat eine solche Reise hinter sich: Als 18-jähriger queerer Teenager hat er sich aus seinem pfälzischen Heimatdorf aufgemacht, ist an die Schauspielschule Mainz gegangen und hat sich neben seinen Engagements als Schauspieler und Regisseur im Laufe der Jahre zu einer wichtigen Stimme für zeitgenössische Dramatik für ein junges Publikum entwickelt. Im Gespräch mit unserem Autor Marvin Wittiber erzählt er von den Anfängen seines Autoren-Daseins, seiner Reise zu dem, der er heute ist, und worin seine Leidenschaft beim Schreiben liegt.
Blog: Du bist in diesem Jahr zum ersten Mal für den Mülheimer KinderStückePreis nominiert. Dass du hier eines Tages einmal landen würdest, war keineswegs gewiss. Deine Theaterkarriere begann als Schauspieler. Wie hast du zum Schreiben gefunden?
Sergej Gößner: Der Anfang war sicher mein Schauspielstudium. Ich bin mit 18 Jahren vergleichsweise früh an die Schauspielschule gekommen – völlig unwissend, was mich dort eigentlich erwarten würde. Erst zwei Jahre zuvor habe ich zum ersten Mal gehört, dass man Schauspiel überhaupt studieren kann. Ich fand das völlig absurd. Ich, in meinem jugendlichen Leichtsinn, habe einfach gedacht, man ist halt Schauspieler*in oder eben nicht. Und als ich dann in Mainz angekommen bin, habe ich ziemlich schnell gemerkt, wie cool das alles eigentlich ist. Dadurch habe ich das Theater erst wirklich kennengelernt. Und mit der Zeit kam in mir mehr und mehr das Gefühl auf, dass ich mehr sein will als „nur“ der Schauspieler, das Mittel zum Zweck, das Ausdrucksmittel der Regie. Ich wollte dieses Medium, in das ich mich gerade verknalle, mehr mitgestalten. Und dann kam in mir diese jugendliche Hybris auf, als ich in meinem Rollen- und Szenenstudium die ersten zeitgenössischen Texte gelesen habe: „Das kriege ich auch hin“, dachte ich mir. Typisch Schauspielschüler*in (lacht).
Blog: Und dann hast du einfach angefangen zu schreiben?
Sergej Gößner: Es fing damit an, dass ich für Kommiliton*innen Szenen zu Monologen gestrichen und dabei gemerkt habe, dass mir das auch wahnsinnig viel Spaß macht. Und dann habe ich mich zweimal in Szene gesetzt: einmal mit „Fette Männer im Rock“ von Nicky Silver und eben mit einem selbstgeschriebenen Text, den ich unter einem Pseudonym eingereicht und den Dozent*innen untergejubelt habe. So fing das alles an. Und dann hat es eben nochmal ungefähr fünf Jahre gedauert, bis ich mein erstes Stück fertig hatte: „Irreparabel“.
Blog: Dass Regisseur*innen auch als Autor*in auftreten ist keine Seltenheit. Die Kombination Schauspiel und Dramatik hingegen schon eher. Worin liegt der Reiz für dich beim Schreiben?
Sergej Gößner: Ich bin fasziniert davon, wenn der eigene Text auf andere Künstler*innen trifft, z. B. das Regieteam, und dann eine Abstraktion von dem entsteht, was ich ursprünglich geschrieben und in meinem Kopf für mich zusammengesetzt habe. Und dann passiert etwas total Spannendes: Wie gehen die damit um? Was machen sie daraus? Und gelingt das? Und wenn die Inszenierung dann Premiere feiert, zu sehen, wie und ob der Text in der jeweiligen Inszenierung funktioniert.
Blog: Wenn Regisseur*innen Texte schreiben, kann man stark oder weniger stark rauslesen, welche szenische Umsetzung sie sich dabei wünschen. Wie ist das bei deinen Texten?
Sergej Gößner: Tatsächlich war das bei mir am Anfang auch so. Bei meinem ersten Text wurde oft davon gesprochen, dass man merken würde, dass ich Schauspieler oder Theatermacher sei. Ich bewundere dann immer meine schreibenden Kolleg*innen, die sich überhaupt nicht um die Umsetzung kümmern. Die geben dann einfach ihren Text ab und man muss selbst erstmal herausfinden, was man da eigentlich in den Händen hält und was man daraus macht. Aber mit jedem neuen Stück, das ich schreibe, versuche ich mich da eigentlich mehr und mehr zurückzunehmen und freue mich dann umso mehr darauf, zu sehen, was am Ende auf der Bühne steht.
Blog: Also wiegt die Neugierde, was andere Künstler*innen aus deinen Texten machen, mehr als sie selbst zu inszenieren?
Sergej Gößner: Schon, ja. Ich wurde auch des Öfteren gefragt, ob ich nicht mal „Irreparabel“ selbst inszenieren möchte. Aber das reizt mich nicht so sehr. Ich will ja sehen, was passiert, wenn mein Text durch andere Filter gejagt wird, wenn er auf eine andere Fantasie trifft.
Blog: Worin liegt grundsätzlich deine Motivation Stücke zu schreiben? Einfach, weil es dir Spaß macht oder gibt es ein tieferes Bedürfnis, eine konkrete Intention?
Sergej Gößner: Ach, ich bin da ja schon so ein bisschen kitschig und romantisch veranlagt (lacht). Ich hoffe schon, ab und an ein bisschen Hilfestellung mit meinen Texten leisten zu können. Zuletzt bin ich ja so auch in der Schublade der queeren Themen gelandet. Die Schublade habe ich gerne angenommen und fühle mich da auch ganz wohl drinnen. Und dann gibt es da noch einen ganz anderen Antrieb: In meinem Umfeld kriegen jetzt gerade, gefühlt, alle Kinder und ich habe mir letztens gedacht: Macht ihr mal, und ich schreibe dann einfach Stücke für eure Kinder und gebe ihnen gleich nochmal eine andere Perspektive mit. Und natürlich was zum Lachen. Und vielleicht so ein bisschen meinen Blick auf die Welt, der ihnen dann vielleicht helfen könnte, sie besser zu verstehen.
Blog: Deine Figuren sind oft Außenseiter*innen, Charaktere, die aus der Reihe tanzen, der Norm nicht entsprechen. Ist diese Figurenzeichnung mit deinen persönlichen Erfahrungen verknüpft?
Sergej Gößner: Ja, ganz bestimmt. Ich war auch immer ein Abweichler. Ich habe in meiner Kindheit durch meine Brüder immer wahnsinnig viel Männlichkeit um mich herum gehabt und meine dabei permanent infrage gestellt. Und es wurde auch stets betont, dass ich anders sei als die anderen. Ich wurde immer wieder aufs Neue gelabelt und meine Familie hat versucht, mich da irgendwie einzuordnen: Ich war der Kluge, der Kreative, der Liebe. Das hat mich total irritiert als Kind: Sind die anderen denn nicht lieb, sind die böse? Ich glaube, das ist die Motivation und daher kommt das und das zieht sich ja auch durch in meinen Texten. Deshalb sind meine Figuren oft Außenseiter, die versuchen gegen irgendwas anzukämpfen.
Blog: Gab es bei Aufführungen deiner Stücke schon besondere Momente? Ich kann mir vorstellen, dass sich einige Menschen mit deinen Figuren identifizieren können.
Sergej Gößner: Es gab solche Situationen durchaus, in denen mir schlagartig klar wurde, warum ich tue, was ich tue: Das waren z. B. die ersten Aufführungen meines Monologs „lauwarm“ – ein autobiografischer Text, in dem ich quasi die Hosen runtergelassen habe und ganz offen über meine Sexualität und über mein Frühlingserwachen gesprochen habe. Wie das in der Pubertät als queerer Mensch auf dem Dorf war. Und dann habe ich junge Menschen im Publikum sitzen gesehen, die während der Vorstellung weinten und danach sogar zum Hauptdarsteller hingegangen sind und sich bei ihm bedankten, weil sie gedacht haben, er erzähle seine eigene Geschichte. Sie sagten: „Es geht mir gerade genauso. Vielen Dank dafür. Jetzt weiß ich, dass ich nicht allein bin, das musste ich jetzt nochmal kurz hören“. Diese Momente sind unbezahlbar.
Blog: Gibt es irgendein Ziel oder eine Vision, die du mit deiner Arbeit verfolgst?
Sergej Gößner: Also erstmal freue ich mich darüber, wenn meine Stücke gespielt werden. Und weil es in meinen Texten um Dinge geht, die mir wichtig sind, wünsche ich mir natürlich, dass das möglichst viele Menschen mitbekommen. Darüber hinaus gibt es natürlich auch diese großen Träume: Dass eines meiner Stücke mal am Burgtheater Wien gespielt wird. Oder dass der Regisseur Antú Romero Nunes mal einen meiner Texte inszeniert (lacht). Aber alleine über die Nominierung aus Mülheim habe ich mich wahnsinnig gefreut. Ich wüsste gar nicht, wie ich damit umgehen würde, wenn ich hier mit dem Preis nachhause gehen würde. Ich freue mich einfach sehr, wie es gerade läuft.
Sergej Gößner wurde 1988 in Ludwigshafen geboren. Sein Debütstück „Irreparabel“ war 2016 für den Autorenpreis des Heidelberger Stückemarkts nominiert und wurde mit dem JugendStückePreis ausgezeichnet. „Wegklatschen. Applaus für Bonnie und Clyde“ wurde im Rahmen des Festivals „Kaas & Kappes“ mit dem 22. niederländisch-deutschen Kinder- und Jugenddramatikerpreis prämiert. Sein Stück „lauwarm“ erhielt den Berganus-Preis und war auf der Shortlist des Brüder-Grimm-Preises des Landes Berlin. „Die überraschend seltsamen Abenteuer des Robinson Crusoe“ stand auf der Auswahlliste für den Deutschen Kindertheaterpreis 2020. Er engagiert sich für die Anerkennung des Kinder- und Jugendtheaters. Als Schauspieler war er u. a. am Staatstheater Wiesbaden, am Tiroler Landestheater Innsbruck und zuletzt am Jungen Schauspielhaus Hamburg engagiert.