Wozu das ganze Theater?


Kolumne

Heute ist es soweit: Die Mülheimer Theatertage starten in ihre 47. Ausgabe – und nach zwei Jahren Pandemie und einem ausgefallenen (2020) und einem rein digitalen Festival (2021) endlich auch wieder in Präsenz in Mülheim an der Ruhr. Die „Stücke“ und „KinderStücke“ werden in diesem Jahr wieder in den gewohnten Kulissen, in der Stadthalle, im Theater an der Ruhr und im Ringlokschuppen, gezeigt.

Im dritten Anlauf bekomme ich damit endlich mein erstes analoges „Stücke“-Festival als Blogger zu erleben. All die überraschenden Begegnungen, prägenden Erfahrungen, bereichernden Gespräche, bleibenden Erinnerungen, berauschenden Erlebnisse und vor allem der gemeinsame Atem und Herzschlag mit bekannten und unbekannten Menschen im vollbesetzten Zuschauersaal – ich habe das und vieles mehr wahnsinnig vermisst und in den letzten Tagen wahrscheinlich auch gerade deswegen eine kindliche Vorfreude entwickelt. Fast so wie an Weihnachten. Weihnachten im Mai quasi. Nur ohne Schnee halt, dafür aber mit Sonne und sommerlichen Temperaturen. Und Aperol Spritz statt Glühwein. Hoffentlich.

Vielleicht könnte das auch schon meine Antwort sein auf die Frage, die mich den gestrigen Tag über begleitet hat: Warum eigentlich Theater? Eine einfachere und grundlegendere Frage könnte man sich als jemand, der im und für das Theater arbeitet, wohl nicht stellen. Und gleichzeitig ist doch keine Frage schwerer zu beantworten. Also: Warum gehen Sie ins Theater? Warum schreiben wir übers Theater? Warum machen die Künstler*innen Theater?

Gestern war ich mit einem befreundeten Künstlerkollegen in Berlin. Wir sind damit der Einladung der Heinrich-Böll-Stiftung zur Fachkonferenz „Unbreak my Heart – Warum wir das Theater lieben!?" für junge Theaterschaffende gefolgt. Mit dem direkten Blick auf das Deutsche Theater Berlin, an dem ich selbst vor fast vier Jahren einmal hospitiert habe, sind rund 50 Nachwuchskünstler*innen, Assistierende und Absolvent*innen zusammengekommen, um gemeinsam dem Geheimnis der unbändigen Liebe zum Theater auf die Spur zu kommen. Warum sind die Leidenschaft und der Wille eigentlich so groß, dass so viele junge Menschen trotz prekärer Arbeitsverhältnisse, veralteter Machtstrukturen und unsicherer Berufsaussichten an die Stadttheater und in die Freie Szene drängen? Mit Gästen aus den Bereichen Dramaturgie, Regie, Intendanz und Wissenschaft wurden diese und viele weitere Fragen besprochen. Das Verlangen nach Austausch und gegenseitiger Inspiration war groß – gerade für diejenigen, die mit dem Theater hadern oder bei denen die Liebe schon gefährliche Risse bekommen hat.

Als wir nach der Veranstaltung in einem italienischen Restaurant in Berlin-Mitte sitzen, frage ich schließlich meinen Kollegen, warum er eigentlich Theater macht und seine künstlerischen Ziele so hartnäckig verfolgt. „Es sind vor allem die Suche nach Lösungen und das Verfolgen von Visionen, die mich immer wieder aufs Neue antreiben“, antwortet er, „und einfach die Arbeit im Team, als Gemeinschaft“. Ich nicke still und lasse den Blick aus dem Fenster des Wintergartens schweifen. Ich ahne, dass ich gleich zurückgefragt werden würde und suche akribisch nach der einen, allumfassenden und gerne auch süffig-poetischen, dezent-kitschigen Antwort. Da erinnere ich mich an ein Buch, das ich vor einiger Zeit mitten im ersten Pandemiejahr in der Hand hielt: „Why Theatre?“ – eine essayistische Zusammenstellung von Antworten, die 106 prominente Theaterschaffende auf diese Frage gegeben hatten. Darunter auch die von sechs Dramatiker*innen, die in der Vergangenheit für den Mülheimer Dramatikpreis nominiert waren: Boris Nikitin (2021), René Pollesch (u. a. 2001 und 2006 gewonnen), Milo Rau (2017), Falk Richter (2004 und 2020), Kathrin Röggla (2006 und 2010) und Botho Strauß (u. a. 1982 gewonnen). Zu lesen sind kleine Essays, Dialoge, Plakate, Kampfschriften und träumerische Gedankenspiele, die einem neue Perspektiven eröffnen und den eigenen Antrieb befeuern. Denn es ist das Zelebrieren von Gemeinschaft, der Austausch von Gedanken und Gefühlen, der uns miteinander verbindet und für die nötige Reibung sorgt, sodass Leidenschaft und Begeisterung entstehen können.

Das Potenzial dafür ist groß. Denn die Theater dürfen die Säle wieder voll besetzen. Und doch bleibt der große Andrang aus, ein Teil des Publikums immer noch fern. Die Vorstellungen beim parallel zu den „Stücken“ stattfindenden Berliner Theatertreffens sind längst nicht alle ausverkauft wie in der Vor-Corona-Zeit. Der Kartenverkauf in Mülheim läuft gut, noch gibt es aber auch hier Tickets für sämtliche Gastspiele. Bleibt zu hoffen, dass der Ruf des Theaters auch über seine Mauern hinausschallt.

„Warum Theater, Marvin?“, fragt mich mein Kollege schließlich. Ich zeige mit dem Finger auf ihn, dann auf mich, breite die Arme aus und deute auf die uns umgebenden anderen Restaurantbesucher*innen: „Darum!“