Leben im Dazwischen
Was ist typisch deutsch? Dass Männer sich bei der Polizei beschweren, wenn eine Prostitutierte nicht die vorab bezahlte Leistung erbringt? Dass leise sprechende Leute für intelligenter gehalten werden als solche, die laut reden? Dass Deutsche sehr gerne darüber sprechen, dass sie nichts gegen Ausländer haben? Diese und zahlreiche andere, geistreiche oder freche Beobachtungen, Behauptungen, Zuschreibungen hat die Autorin Sarah Kilter „in Spiegelstrichen“ ihrem Stück „White Passing“ vorangestellt. Erst lacht man noch über Deutschland und die Deutschen, auch sich selbst, freut sich über die eigene Fähigkeit zur Selbstironie. Doch je länger die Liste wird und je beharrlicher sie sich fortgesetzt – insgesamt vier Mal unterbricht sie das Stück –, desto schwerer fällt das Lachen.
Wer bitte ist die Autorin, die so genau Bescheid darüber weiß, wann die Deutschen es mal wieder besser wissen? Um genau diese Frage kreist aber der Rest von „White Passing“, was auf Deutsch so viel heißt wie „als weiß durchgehen“. Sarah Kilter, geboren 1994 in Berlin, hat eine deutsche Mutter, einen algerischen Vater und kennt sich aus mit dem Perspektivwechsel auf die Deutschen und aufs Deutschsein. Auf interessante Weise hat sie sich in ihr eigenes Stück geschrieben: „Sie“, bestreitet sie anfangs, sei nicht Sarah Kilter, sondern nur eine Figur. Ausgiebig stellen andere Stimmen – seien es ihrer Lehrer*innen auf dem Gymnasium oder Zuschauer*innen des Theaterstücks – Behauptungen über sie und ihr Schreiben auf; auch ihre drei Freund*innen Jule, Thomas und Max reden in ihrer Charlottenburger Wohnung („sieht aus wie im Katalog“, finden die drei), wo sie eine Überraschungsgeburtstagsparty für sie ausrichten wollen, über sie und nicht mit ihr. „Sie“ wiederum spricht in längeren Prosamonologen darüber, wie sich ein Leben dazwischen anfühlt: zwischen Bushido und Böhmermann, Wedding und Charlottenburg, „Problemviertel“ und Privilegien. Wie Klassen- und Statusfragen in die Selbsterkundung hineinspielen, und wieso es eigentlich um ihren Vater geht.
Souverän und experimentierfreudig zugleich collagiert Sarah Kilter, die erst vor zwei Jahren ihr Studium des Szenischen Schreibens an der UdK Berlin abgeschlossen hat, in „White Passing“ unterschiedliche (post-) dramatische Formen und Stimmen. Eine Herausforderung auch für das Schauspiel Leipzig, dessen Ensemble Regisseurin Thirza Bruncken in der von den Berliner Autorentheatertagen koproduzierten Uraufführung in einen durchaus gefährdeten Kunstraum versetzt: Puppenhafte Schauspieler*innen bewegen sich in einer übergroßen Handtasche, die vielleicht eine billige Plastik-Bag ist, vielleicht aber auch deren Highfashion-Neuinterpretation. Diese Doppeldeutigkeit, die zwei Perspektiven auf denselben Gegenstand, sind etwas, das sich auch in Kilters schlauem, komischem und wütendem Stück wiederfindet.
Eva Behrendt