Leuchtsignal aus Mülheim


Diskurs

Wer hätte das für möglich gehalten? Die Mülheim-Debütantin Ewe Benbenek wurde gestern mit ihrem Erstlingsstück, „Tragödienbastard“, von der Preisjury mit dem Mülheimer Dramatikpreis 2021 ausgezeichnet. Nach einer gut dreistündigen Jurydebatte setzte sie sich in einem spannenden Finalduell gegen Rainald Goetz und sein „Reich des Todes“ durch. Als Zünglein an der Waage fungierte Jurymitglied und Kritiker Janis El-Bira: er hatte zunächst für Sibylle Berg („Und sicher ist mit mir die Welt verschwunden“) votiert und schwenkte dann aufgrund von Stimmengleichheit zwischen Goetz und Benbenek aber auf letztere um. Damit bestimmte er die Gewinnerin des mit 15.000 Euro dotierten Preises.

Die Jury beschrieb „Tragödienbastard“ als einen Text, der sich mit großen Themen auf und hinter der Bühne beschäftigt: von Sexismus über Rassismus bis hin zu Klassismus – ohne dabei in Sozialkitsch abzudriften. Er zeichne sich durch eine virtuose Suchbewegung in der Sprache aus und sei eine sehr reife Form autofiktionalen Erzählens. Zudem wecke er ein Gefühl für Stimmen und Raum im Theater. Der Text sei eine vielversprechende Überraschung: auf allen Ebenen neu, interessant, klug, spannend.

Nichtsdestotrotz ist die Entscheidung für Ewe Benbenek eine große Überraschung. Schließlich waren auch die beiden Schwergewichte Sibylle Berg (sieben Nominierungen für den Mülheimer Dramatikpreis, ein Publikumspreis) und Rainald Goetz (fünf Nominierungen und drei Mülheimer Dramatikpreise) im Rennen. Daneben war mit Rebekka Kricheldorf (fünf Nominierungen) eine weitere Hochkaräterin in der Auswahl. Dennoch schien in vielerlei Hinsicht Goetz wie der offensichtliche Gewinner: „Reich des Todes“ ist sein erstes Theaterstück seit 20 Jahren und eröffnete mit seiner opulenten Länge von gut 100 kleinbedruckten Seiten eine „Textschlucht“ sondergleichen.

Als ein „überzeugendes Versprechen für die Zukunft“ begründete Juror Janis El-Bira die Auswahl von Ewe Benbenek in seinem Schlussplädoyer. Damit sendet die Jury ein leuchtendes Signal in die deutschsprachige Theaterlandschaft hinein. Denn die Begründung, „An dem oder der Autor:in führt nun mal kein Weg dran vorbei“, die für bedeutsame Dramatiker:innen wie Elfriede Jelinek oder eben auch Rainald Goetz lange galt, hat offenbar an Durchschlagskraft verloren. In der Jurydebatte fiel dieser Satz zwar auch, schlussendlich wurden aber anderen Argumenten mehr Bedeutung zugemessen. Außerdem zeigt die Entscheidung, dass Perspektiven von Menschen, die nicht der Mehrheitsgesellschaft angehören, zunehmend an Wichtigkeit gewinnen und gefördert werden. Denn in der Vielzahl und Diversität von Figuren, Narrativen und Perspektiven liegt die Zukunft des Theaters, wenn es seinem Credo gerecht werden will, die gesamte Gesellschaft auf ihren Bühnen abzubilden. Bis dahin ist es zwar noch ein weiter Weg, aber ein weiterer Etappensieg scheint an diesem Abend erzielt worden zu sein.