Der Blog hat sich entschieden


Diskurs

Wenige Stunden bevor die offizielle Preisjury der „Stücke“ tagt, haben die Blogger:innen ihre Stimme abgegeben. Vier der sieben eingeladenen Stücke wurden genannt, dabei ausschließlich Autorinnen und eine von ihnen gleich dreimal. Hier sind die Blog-Favoriten:

 

Hanna Bartels: Christine Umpfenbach mit „9/26 – Das Oktoberfestattentat“

Mein Favorit für den Mülheimer Dramatikpreis ist Christine Umpfenbachs Rechercheprojekt „9/26 – Das Oktoberfestattentat“. Dieser Text vereint Aufklärungsarbeit, Anstoß an eine Erinnerungskultur und packendes Dokumentartheater. Obwohl der Text von einem rechtsextremen Attentat erzählt, das schon 40 Jahre zurückliegt, ist er brandaktuell. In Zeiten von immer präsenter werdenden nationalistischen Gruppen ist Christine Umpfenbachs Text eine durchschlagende und wichtige Mahnung.

 

Sabrina Fehring: Rebekka Kricheldorf mit „Der goldene Schwanz“

Eine schwere Entscheidung bei so vielen tollen Stücken. „9/26 – Das Oktoberfestattentat“ und „Der goldene Schwanz“ in meiner Endauswahl. Für mich gewinnt dann doch Rebekka Kricheldorfs Stück. Von Anfang an hat es mich mitgerissen, dass endlich jemand die alte Cinderella Story wirklich neuinterpretiert mit Diskursen über Feminismus und Klassismus. Endlich gefallen mir die „böse“ Stiefmutter und die Sistas. Auf der verzweifelten Suche nach einem goldenen Schwanz, der sie aus ihrer Armut befreit, lechzen sie nach Schönheit, Geld und Aufmerksamkeit. Kann man es ihnen verübeln? Nein, denn diese Welt ist sick. „Wir können nichts dafür. Wir wurden vom Patriarchat deformiert“, – reflektieren sie selbst. Angeln sich die Sistas am Ende goldene Schwänze oder machen sie ihr eigenes Geld? Wird Cinderella doch die klischeehafte Desperate Housewife? So viele mögliche Optionen. DAS Ende kennen wir nicht. Alles was wir wissen ist: das altbekannte romantisierende Märchenende ist es nicht!

 

Iven Yorick Fenker: Christine Umpfenbach mit „9/26 – Das Oktoberfestattentat“

Nachdem Rainald Goetz den Dramatikerpreis schon 1988, 1993 und 2000 erhielt, drängt sich auch in diesem Jahr sein Wahnsinnstext „Reich des Todes“ auf. Diesem ist die lange Arbeit des Autors anzumerken. Dies ist ein Text, der unangenehm fein, unerhört sprachgewaltig und unerschöpflich wirkmächtig in das tiefste Tief der Macht der Politik, der Geschichte vordringt und dem, was diese mit Menschen macht. Was die Wunde von 9/11 für die Weltgemeinschaft bedeutet, zeigt sich hier in den Verrenkungen der Mächtigen. Was aber Terror und die Politik der Mächtigen mit den Menschen macht, die er getroffen hat, das erzählt Christine Umpfenbach in „9/26 – Das Oktoberfestattentat“. Dieser Text ist das erschütternde Zeugnis der Erzählungen der Überlebenden und ich stimme Christine Umpfenbach, im Herzen gerührt, zu, wenn sie sagt: „Zuhören ist auch Schreiben.“ Vielleicht ist das gerade wichtiger.

 

Hanna Kuhlmann: Ewe Benbenek mit „Tragödienbastard“

Eine postmigrantische Perspektive als wabender Gedankenstrom. Ehrlich und nah. Weiblich, stark, emotional. Aus Liebe zur Wut, einem weit unterschätzten Gefühl, wähle ich dieses fulminante Wortkarussell. Denn Wut ist ein Gefühl der Veränderung. Und diese brauchen wir.

 

Clara Werdin: Ewe Benbenek mit „Tragödienbastard“

Dieses Jahr finde ich es super schwierig, mich für einen Favoritentext zu entscheiden. Ich könnte für jeden genügend Gründe finden. Ganz oben steht bei mir zum Beispiel „Tragödienbastard“ von Ewe Benbenek. Weil ich die eingestreuten polnischen Sätze mag, obwohl ich gar kein polnisch kann. Ich mag die Satzwiederholungen mit den kleinen Veränderungen und Ergänzungen, sodass ich als Leserin irgendwie beim Finden der Wörter und beim Bau des Satzes dabei bin. Ich mag das Gefühl von einem Ringen um Worte. Und ich finde, dass postmigrantische, feministische, junge Perspektiven unbedingt mehr Raum im Theater einnehmen sollten. Aber sobald ich mich festlegen möchte, grätschen die Argumente für „9/26 - Das Oktoberfestattentat“ von Christine Umpfenbach dazwischen. Weil das Stück ein so wichtiges Thema aufgreift und gegen das Vergessen arbeitet. Weil es nochmal auf eine ganz andere Weise aus echten Stimmen, Erfahrungen, Menschen gebaut ist, so greifbar. Und was ist mit Sibylle Berg und „Und sicher ist mit mir die Welt verschwunden“? Sätze wie „Ich bin ein Opfer aller Bilder, die das System in mein Unterbewusstes geladen hat. Mein aktueller Lebensentwurf besteht nur aus der Imitation dieser Bilder“ kann man doch nicht einfach ignorieren?! Hm. Ich kann mich nicht festlegen, dieses Jahr, es geht einfach nicht. Sorry!

 

Anne Winterhager: Ewe Benbenek mit „Tragödienbastard“

Ich bin für „Tragödienbastard“ von Ewe Benbenek, denn es ist ein Stück Ehrlichkeit. Ich bin der Meinung, wir brauchen andere Stimmen als die immer gleichen. Wir brauchen Autor*innen, die über andere Lebenserfahrungen schreiben als das immer gleiche prätentiöse Mittelschichtsblabla. Und wir brauchen Menschen, die zugänglich, die offen und reflektiert sind. Und all das war Ewe in unserem gemeinsamen Interview.

 

Marvin Wittiber: Sibylle Berg mit „Und sicher ist mit mir die Welt verschwunden“

Wieder einmal ist es Sibylle Berg gelungen, ein richtig gutes Stück zu schreiben. Auch diesmal hat man das Gefühl, man höre sie selbst aus jeder Zeile, jedem Wort und jeder Atempause sprechen: sarkastisch, bitterböse, komisch, zugespitzt und stets voll lauter Anklage gegen das Gesellschaftssystem. Wie sie die Zustände und Strukturen unserer Gesellschaft offenlegt und ihnen Ausdruck verleibt, ist einfach berauschend. Die beeindruckende Uraufführungsinszenierung von Regisseur Sebastian Nübling hat zudem gezeigt, wie gut der Text nicht nur für sich selbst beim Lesen, sondern auch auf der Bühne funktioniert und hier sogar erst seine volle Wucht entfalten kann. Doch was macht diesen Text so besonders, dass er ausgezeichnet werden muss? Es sind die Töne voller Melancholie, Resignation und Verzweiflung, die Sibylle Bergs Bandbreite sprachlichen Ausdrucks inmitten dieses wütenden Stücks um eine neue Nuance ergänzen und damit zwei Welten, "Jetzt" und "Dann", immer wieder zum Vibrieren bringen – einfach großes Theater!