24. Mai 2021 •
Eine fünfköpfige Patchworkfamilie lebt von Hartz IV: Sis, Sista, Mom, Dad und Aschenputtel. Wenn Sie das hören, was assoziieren Sie? Rebekka Kricheldorf hat das jahrhundertealte Grimm’sche Märchen in ihrer Variante „Der Goldene Schwanz“ ins 21. Jahrhundert verlegt und unsere heutige Vorurteilsbildung gleich mitgedacht. Prinz, der "famous daily Soap-Gott", interessiert sich nur für die Feministin in Blaumann: Aschenputtel. Dabei wollen doch alle anständig kapitalisierten jungen Frauen, eingeschlossen ihrer Stiefschwestern Sis und Sista, ihn, den goldenen Schwanz, das Versprechen auf ein besseres Leben in Reichtum und Glamour.
Wenn wir glauben, dass Aschenputtels Stiefschwestern Sis und Sista mit ihrer eindeutigen Vorliebe für Dior, Pink und enge Kleider Literaten wie Bertolt Brecht ja gar nicht gekannt haben können, so werden wir in unseren eigenen klassistischen Denkmustern entlarvt: „Sis und Sista argumentieren in diesem Stück auf einer ganz anderen Diskursebene als Aschenputtel“, sagt Regisseurin Schirin Khodadadian, die 2020 am Staatstheater Kassel „Der Goldene Schwanz“ von Rebekka Kricheldorf inszenierte. Und doch interessieren sie sich brennend für Make-Up und Haare. Wie geht das zusammen? An dieser Stelle stoßen wir uns an unseren eigenen Vorurteilen: Kleidchen und selbstbestimmt? Vulgäre Sprache und intellektuelle Vorbilder? Wir, als Menschen, „sind ohnehin ungleich“, so Khodadadian. „Da müsste man sich selbst nochmal befragen: Sind denn die Bewertungskategorien, die wir anlegen, überhaupt legitim?“.
Unser Gehirn liebt die Vereinfachung
Das menschliche Denken erscheint paradox: Unser Gehirn liebt die Vereinfachung, Schubladen und Stereotype. Ohne diese wären wir nicht alltagsfähig. Zum anderen aber sind menschliche Wesen immer vieles: zierlich und stark, männlich und weich, aus Marokko und aus Deutschland. Sowohl, als auch. Ich selbst trage gerne Blümchenkleider, interessiere mich für feministische Theorie und hasse es, wenn mir jemand als Aufmerksamkeit Blumen schenkt. Vermeintliche Ambivalenzen können aufweichen, wenn wir darüber nachdenken, was wir alles sind und sein können.
Kricheldorf spielt mit unserer Sehnsucht nach Kategorisierung, indem sie die in Brechtscher Manier immer wieder bricht. Aschenputtels Stiefschwestern sprechen von ihrem Lebensziel „Mann & Geld“, reproduzieren sexistische Muster und reflektieren gleichzeitig, dass sie ja nichts dafür können, denn sie wurden „vom Patriarchat deformiert“. Aber auch Aschenputtel kommt nicht ausschließlich als feministische Heldin daher: Sie wird als toughe Handwerkerin in Blaumann beschrieben, verfällt im Laufe der Erzählung aber doch der Liebe zum Prinzen. In „Der Goldene Schwanz“ gibt es bereits bekannte Elemente des Märchens, die aber von neuen Erzählsträngen durchkreuzt oder durch Kricheldorfs Überspitzung einfach zersprengt werden. „Durch das historische Präsens der Erzählerinnenfigur“, erklärt Khodadadian, „erleben wir die Erzählung als etwas ganz Präsentes, was aber aus einer vergangenen Welt zu kommen scheint. Durch diesen Trick bewirkt sie, dass wir das Geschehen im Stück kaum noch verorten können: irgendwo zwischen Daily-Soap und Märchen“.
Plädoyer für die Lebenslust
Diese Verlorenheit im Raum, dieses Nicht-Verorten-Können, das Undefinierbare erleben wir als unangenehmen Zustand: Wenn wir einem fremden Menschen begegnen, wissen wir nicht, wie derjenige denkt. Um Gefahren zu vermeiden, wollen wir aber einschätzen, wie das Gegenüber reagieren könnte. Aus diesem Grund ignorieren wir, dass wir uns und unser Gegenüber eigentlich aktuell nicht verorten können und fällen trotz dessen ein Urteil. Ein natürlicher Prozess, der ebenso viele Risiken birgt. Kricheldorfs Stück aber macht uns auf diese Fehlbarkeit unserer eigenen Wahrnehmung aufmerksam: Sie zwingt uns, stehen zu bleiben, hinzuschauen und die fehlende Schublade zu ertragen. Und das schafft ihr Stück auf allen Ebenen, wie Regisseurin Khodadadian anmerkt: „Die Gleichzeitigkeit der Diskurse finde ich das Aufregende an ihrem Stück: Das heißt es ist genauso wichtig, welcher Kajal am günstigsten ist und in allen Lebenslagen perfekt hält, als auch, welche feministische Theorie mein Leben bereichern könnte“.
Der Schwerpunkt liegt für Khodadadian aber nicht auf der Interpretation der feministischen Themen, die in „Der Goldene Schwanz“ zu lesen sind. Klassismus, Feminismus, Kapitalismus – all diese Diskurse, die aufgemacht werden, sind in ihrer Parallelität von Bedeutung. Es gehe nicht darum, eine Thematik zu verhandeln, sondern aufzuzeigen, dass die Annahme einer homogenen Gesellschaft ohnehin hinfällig ist. „Wir sind ungleich und deshalb müssen wir uns wahnsinnig anstrengen, gut zu kommunizieren. Aber die Lösung ist nicht, uns auf den kleinsten gemeinsamen Nenner einzunorden. Wir brauchen ein universelles Prinzip, kein sektiererisches Zuordnen.“ Kricheldorf erzählt in ihrem Stück von diesen tiefliegenden gesellschaftlichen Diskursen mit einer Leichtigkeit, die Khodadadian begeistert: „Die Figuren sind bereit, das Bekannte weg zu werfen und Neues zu entdecken. Es ist somit auch ein Plädoyer für eine große Lust: Die Lust, sich in das Leben hineinzuwerfen“.