American Psychos/ German Angst


Kritik

Im Schauspielhaus Hamburg führt der Abgrund des Abends hinab in die Niederung des REICH DES TODES. Karin Beiers weitreichende Inszenierung durchwandert unermüdlich, unerschrocken das finstere Tal – diesen Wahnsinnstext von Rainald Goetz, der die Realitäten der Bedingungen von Macht seziert und eine Retrospektive der politischen Historie wagt.

Welche Wunde die Flugzeuge am 11. September 2001 ins Zentrum der mächtigen, westlichen Welt gerissen haben und welcher Terror dem Terror folgt, offenbaren die treffsicher-tiefschürfenden Verwicklungen der Figuren in dieser Textschlucht. Mit dem Auftritt der populären, politischen Elite der USA der Nullerjahre – überschrieben mit einem Tableau der Mächtigen der europäischen Politik des vergangenen Jahrhunderts – beginnt eine Operation am offengelegten Rückenmark der Geschichte. Die politischen Eliten versuchen sich die Hände reinzuhalten und führen doch nur eifrig in die Selbstgerechtigkeit des Horrors: die Realpolitik.

Überfrachtung, stumpfe Gefühle und grauenhafte Gräueltaten

Die Situation der Krise ins Digitale zu übertragen, gelingt auf allen Ebenen. Im weiten, dunklen Bühnenraum von Johannes Schütz wird eine Materialschlacht stattfinden. Voxi Bärenklau zeigt diesen Raum in konzentrierten Ausschnitten, die ein Sehen des Geschehens ermöglicht, das wenig distanziert wirkt. Die Kostüme von Eva Dessecker und Wicke Naujoks sind uniforme, auf den männlichen Körper geschneiderte Standards der westlichen Welt. Das Ensemble wird, parallel zur Überfrachtung der Bühne, immer weiter mit Symbolen bekleidet, die aus dem popkulturellen Kollektivgedächtnis stammen. So zum Beispiel George Bush, Dick Cheney und Condoleezza Rice, deren Reaktionen auf 9/11 so oft wiederholt wurden auf den Bildschirmen dieser Welt, dass die übermenschlich großen Pappmachémasken dieser Gesichter nur reglos starr auf den Schauspieler:innenkörpern verharren und sich doch zu bewegen scheinen.

Die Bühne wird immer voller, je länger der lange Abend geht. Die Vorstellung schöpft unerschöpflich aus den Bildern der Geschichte. Die Symbole haben sich eingebrannt. Die Inszenierung folgt dem Text in die Entfremdung. Die Liturgie des politischen Prozesses wird gnadenlos heruntergespielt. Die Litanei der brutalen Befehlsrepliken und deren juristischen Berechtigungsmonologen führt in die Ermächtigung der präsidialen Regierung über Menschen, Leben und Tod. Das endet in einer Stumpfheit der Gefühle, die dem Grauen der Gräueltaten des US-amerikanischen Folterknastes Abu-Ghuraib folgt. Das erleben die Figuren und das durchlebt das Publikum. Das breit besetzte Ensemble bietet LIVE Schauspiel, Musik und Tanz. Das wirkt unmittelbar. Die Simulation stimuliert. Die ersten Stunden vergehen im souveränen Spiel mit dem männlichen Machtgestus, den die Schauspieler:innen ungebrochen und gekonnt exerzieren. Das ist eine Qualität des Textes, der Inszenierung und des Spiels: Dass aus der blöden Reproduktion des plumpen Palavers der Männermacht kein Hehl gemacht wird.

Von der stumpfen, dumpfen Banalität des Bösen

Die Schauspieler:innen scheinen sich freispielen zu wollen, um dorthin zu gelangen, wohin der Text vordringt, zu den Ursprüngen, aus denen die Macht sich begründet. Sebastian Blomberg, der wenig mehr machen muss, als nur mit Haltung zu sprechen, um die Bühne einzunehmen. Er dominiert in der Rolle des Vizes über den Präsidenten, Wolfgang Pregler, der dagegen aus dem Tiefstatus schießt. Der Kriegsminister, Burghart Klaußner, spricht mit erschreckender Kälte. Der Geheimdienstdirektor, Lars Rudolph, vollzieht grandiose Winkelzüge in seinem Gesicht. Der Chefjustiziar, Holger Stockhaus, bricht immer wieder unvermittelt aus. Seine Stimme ist eine schallende Eruption. Der Justizrat, Daniel Hoevels, schließt sich dem an. Der Gefreite und der Gefangene, Tilman Strauß, verschwimmen im Leid. Sie spielen Männer, elend, triebhaft und grausam. Sandra Gerling ist souverän, Anja Laïs widerständig, Eva Bühnen und Josefine Israel machen sich zum Aufstand bereit. Den Frauenfiguren, die im Text nicht unbedingt viel Raum bekommen, trotzen sie eine unangreifbare Würde ab. Sie verschaffen ihnen einen Platz auf Karin Beiers Männerbühne.

Zur Dringlichkeit des Abends wirken unverzichtbar die Tänzer:innen und Musiker:innen, die den Abend maßgeblich bestimmen. Der zweite Teil beginnt mit einer Dia-Show der entsetzlichen Bilder der Folter. Die Figuren betrachten ihr Werk auf großer Leinwand, essen Chips und trinken Cola. Auch das ein Zitat, das durchaus nicht durch Komplexität der Analyse besticht, aber doch durch die stumpfe, dumpfe Banalität des Bösen und seiner kulturellen Erscheinungsformen. Denn natürlich ist die Konsumkultur obszön. Die Inszenierung und das Spiel des großartig agierenden Ensembles stürzt sich mutig in das, von der Musik von Jörg Gollasch maximal verstärkte, Rezitativ der Machtausübungen. Die Perversion in der Professionalisierung des Folterapparats führt bei Rainald Goetz zum imaginierten CAMP JUSTICE 2020 und dem jüngsten Gericht. Eine Wunschvorstellung. Der erste Chor der Vorstellung (von der legendären Christine Groß) bereitet den Weg zum schließlich scheinbar endlosen und meisterhaft von Jörg Gollasch gearbeiteten Abschluss-Chor, der politische Theorie ist, Hörsaaltheater und Abgesang. Der sich immer tiefer in die menschliche Seele gräbt.

Das Rezitativ des Abends ist eine Frage: WO BLEIBT DER FUN? Die Antwort ist erschreckend.