20. Mai 2021 •
Im Jahr 2000 zogen zehn unbekannte Menschen in einen „Container“, um sich 100 Tage lang rund um die Uhr von einer ganzen Nation in ihrem gemeinsamen Alltag beobachten zu lassen. „Big Brother“ war ein Meilensteil deutscher Fernsehgeschichte, der für Begeisterung wie Entsetzen sorgte und die Unterhaltungsindustrie und Gesellschaft maßgeblich mitprägte. Susanne Keuneke ist Kommunikations- und Medienwissenschaftlerin und forschte bereits zu der TV-Show. Unser Autor Marvin Wittiber bat sie um einen wissenschaftlichen Blick auf das Phänomen „Big Brother“ und auf Boris Nikitins Stück „Erste Staffel. 20 Jahre Großer Bruder“.
Blog: Gleich zu Beginn in Boris Nikitins Stück „Erste Staffel. 20 Jahre Großer Bruder“ heißt es, dass die Reality-Show „Big Brother“ ein neues Zeitalter – das Zeitalter der Reality – einläutete. Lässt sich diese These aus wissenschaftlicher Sicht bestätigen?
Susanne Keuneke: Ein Einläuten war es faktisch nicht mehr. Das hat bereits mit den täglichen Talkshows, den „Daily Talks“, stattgefunden, von denen „Big Brother“ auch Elemente übernommen hat. In diesen Formaten strömten plötzlich im großen Maße Alltagsmenschen mit Alltagsthemen auf die Bildschirme, die sich dann über Banales, Triviales und zum Teil sogar recht Anzügliches unterhielten. Und das in einer Sprache, die auch eben nicht mehr akademisch oder qualitätsjournalistisch war, sondern ebenfalls sehr alltäglich – man könnte auch sagen zum Teil sehr vulgär.
Blog: Ging dennoch ein Effekt von der ersten deutschen Staffel „Big Brother“ aus?
Susanne Keuneke: Definitiv. Nachdem sich dieser Dammbruch durch die „Daily Talks“ einigermaßen verlaufen hatte, da den Sendern schlicht und ergreifend die Leute ausgegangen waren, die bereit waren, sich vor die Kamera zu setzen und über zum Teil sehr intime Themen zu sprechen oder das auch nur zu schauspielern. Es ist ja kein Geheimnis, dass beileibe nicht alles authentisch war, was dort gezeigt wurde. „Big Brother“ hat dann nochmal eine Schippe obendrauf gelegt und das Reality-TV auf eine neue Ebene gehoben – und zwar mit einer einkalkulierten Provokation. Schon allein der Titel „Big Brother“, der bekanntermaßen auf eine dystopische Literatur verweist und der Allgemeinheit bekannt ist, war ein Teil dessen. Menschen tatsächlich rund um die Uhr zu beobachten und diese Bilder anderen vorzuführen, war ein absoluter Tabubruch. Alles, was danach kam, war nicht mehr so erschreckend. Gegen das, was heutzutage im Fernsehen gezeigt wird, waren die ersten Staffeln von „Big Brother“ eigentlich Kinderkarneval. Aber dieses Hyperventilieren, was im Jahr 2000 noch die die öffentliche Diskussion beherrschte, findet so nicht mehr statt. Seit „Big Brother“ herrscht eine neue Normalität im Fernsehprogramm.
Blog: Mit welchen Mitteln arbeiten denn Fernsehmacher:innen von heute, um ihr Publikum anzuheizen und ihre Unterhaltungsformate ins öffentliche Gespräch zu bringen?
Susanne Keuneke: Das Skandalträchtige hat inzwischen an Wirkung verloren. Das bedeutet aber gleichzeitig, dass man als Produzent:in mehr Möglichkeiten bei der Produktion solcher Formate hat und diese zwangsläufig auch nutzen muss, weil die Sensibilität und zugleich die Aufmerksamkeit abgenommen haben. Seit Jahrzehnten kämpfen Menschen, die Medieninhalte anbieten, um Aufmerksamkeit. Und inzwischen muss man Einiges veranstalten, um diese auf sich zu ziehen. Daran hat „Big Brother“ einen nicht geringen Anteil. Da stimme ich also dem Theaterstück inhaltlich vollkommen zu, dass mit diesem neuen TV-Format ein Aufschlag gemacht wurde, der ein ganzes Genre prägte. Anschließend wurden die Hemmschwellen herabgesetzt und damit eben auch die Aufmerksamkeitsschwellen. Inzwischen muss mehr geliefert werden, um diese Aufmerksamkeitsökonomie für sich noch ausnutzen zu können.
Blog: Und wie kann das konkret gelingen? Mit noch mehr Polarisierung, Provokation und nackter Haut?
Susanne Keuneke: Nicht alles, was intim und provokativ ist, ist gleichermaßen erfolgreich. Vor ein paar Jahren gab es das Fernsehformat „Adam sucht Eva“, bei dem sich auf einer Insel komplett unbekleidete Menschen vor der Kamera gedatet haben. Das war ein ziemlicher Flop. Man kann also nicht sagen, dass dem Publikum alles an Tabubruch und Provokation und Intimität gleichermaßen vorgesetzt werden kann, dass sich die Zuschauer:innen quasi schlucken, was man ihnen anbietet. Das Publikum ist durchaus wählerisch und schaut darauf, was seine zum Teil sehr vitalen Bedürfnisse befriedigt.
Blog: Die Möglichkeit der Teilnahme an Reality-TV-Shows wie „Big Brother“ bieten den Kandidat:innen auch die Möglichkeit, ihren Bekanntheitsgrad zu steigern und sich als Person vor den Kameras selbst zu inszenieren und zu vermarkten. Sind sich die Teilnehmer:innen der ersten „Big Brother“-Staffeln bereits darüber im Klaren gewesen?
Susanne Keuneke: Ich habe damals mit einer Kollegin eine Studie durchgeführt, bei der wir zehn Kandidat:innen aus den ersten beiden Staffeln interviewt haben. In diesen Gesprächen ist deutlich geworden, dass einerseits die Neugierde auf dieses soziale Experiment extrem groß war und einige schon einen wirklichen Anspruch an sich selbst hatten, deutsche Fernsehgeschichte mitzuschreiben. Andererseits auch einige Kandidat:innen von Anfang an die Idee der Selbstvermarktung im Kopf und haben dann auch die Kameras zum Teil – das kann man auf den alten Aufnahmen sehr gut sehen – für sich eingesetzt.
Blog: Wer authentisch oder „real“ und wer hinterhältig und „fake“ ist, werfen sich die Kandidat:innen in Reality-Shows immer wieder gegenseitig vor. Diese Eigenschaften scheinen zu einem wichtigen Indikator für Erfolg geworden zu sein. Woran lässt sich Authentizität in solchen Formaten messen?
Susanne Keuneke: Ich nehme an, dass Authentizität im Auge des oder der Betrachterin liegt. Meine Wahrnehmung ist, dass Authentizität in Reality-Shows wie „Big Brother“ dadurch zustande kommt, dass es tatsächlich Menschen wie Sie und ich sind, die eben nicht aufgrund von Prominenz für die Teilnahme ausgewählt worden sind, sondern die tatsächlich aus der Mitte der Gesellschaft kommen. Und die mit all ihrer Banalität, mit dem Alltäglichen und Trivialen vorgeführt werden. Das hören wir auch in den Originaldialogen, die im Stück verwendet werden. Die Kandidat:innen der ersten beiden Staffeln haben uns gesagt, dass sie die Kameras auch immer mal wieder vergessen haben. Aber wie gesagt: Nicht wenige von ihnen haben darin von Anfang an auch Karrierechancen gesehen und haben dementsprechend Selbstinszenierung betrieben. Insofern ist, das glaube ich, mit der Authentizität bei „Big Brother“ so eine zweischneidige Sache: Einerseits gab es ein Mehr, andererseits in bestimmten Situationen sicherlich auch ein Weniger an Authentizität.
Blog: Ich möchte gerne noch auf eine andere These zu sprechen kommen, die Boris Nikitin in seinem Stück aufstellt. Nämlich dass in dieser Reality unbewusst sämtliche Mechanismen des Populismus im 21. Jahrhundert angelegt wurden. Ist das ein Eindruck, den Sie teilen?
Susanne Keuneke: Das war tatsächlich ein Punkt, an dem ich bei der Beschäftigung mit dem Stück kurz gezuckt habe. Populismus ist in den Sozialwissenschaften ein Konzept, mit dem eine politische Haltung bezeichnet wird, die grob mit „Wir hier unten gegen die da oben“ zusammengefasst werden kann. Daher habe ich einen etwas anderen Populismus-Begriff als Herr Nikitin. Und diese Form von Populismus sehe ich bei „Big Brother“ nicht abgebildet. Vielmehr haben sich die Kandidat:innen aller Staffeln einer vorgegebenen Hierarchie untergeordnet. So funktioniert das eben. Insofern ist das kein Aufbegehren des Volkszorns gegen irgendwelche Eliten. Ganz im Gegenteil: Die Teilnehmenden machen sich zu Kompliz:innen dieses Systems und versuchen dabei, es für sich zu nutzen.
Blog: Was glauben Sie, wie lange wird es „Big Brother“ im deutschen Fernsehen noch geben? Der Hype ist bereits seit Jahren spürbar abgeebbt, die Einschaltquoten rückläufig und konkurrierende Reality-TV-Formate boomen.
Susanne Keuneke: Der Lebenszyklus von „Big Brother“ ist meiner Einschätzung nach schon in der letzten Phase angekommen. Ich bin schon seit geraumer Zeit keine Rezipienten dieser Sendung mehr. Das ist auch einer der Gründe, warum ich mir nicht zutraue, eine genaue Prognose aufzustellen. Hier und da habe ich zwar nochmal reingeschaut und auch gesehen, dass an dem ursprünglichen Konzept viel geändert worden ist und die Hemmschwellen immer weiter abgesenkt wurden. Während es in der ersten Staffel noch ein richtiger Skandal war, dass sich ein Pärchen zusammen im Bett verkrochen hat und da eben eine wackelnde Bettdecke zu sehen war, werden inzwischen weitaus explizitere sexuelle Handlungen gezeigt. Und darüber wird sich heute nicht mehr groß aufgeregt. Das heißt, die Produzent:innen haben da schon ordentlich aufgefahren und die Messlatte immer weiter hoch gesetzt. Aber irgendwann wird sie zwangsläufig abfallen müssen, weil kein Spielraum mehr da ist. Und so wird das Format folglich irgendwann einfach ganz von der Bildschirmfläche verschwinden.
Susanne Keuneke, geboren 1970, studierte Soziologie, Kommunikations- sowie Politikwissenschaft in Münster. Seit 1999 ist sie an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf als Dozentin für Kommunikations- und Medienwissenschaft tätig. Ihre Forschungsschwertpunkte liegen im Bereich der populärkulturellen Medienangebote, u.a. führte sie zu Beginn der „Big Brother“-Ära eine Studie durch, bei der Kandidat:innen der ersten beiden Staffeln zu ihren Erfahrungen mit dem Format befragt wurden.