19. Mai 2021 •
Auf der kleinen, durch Bauzäune abgesteckten Außenfläche vor dem Wohncontainer sind zwei der Bewohner:innen zurückgeblieben. Der eine, Jürgen, sitzt auf einem Liegestuhl und streift sich etwas unbeholfen weiße Tennissocken über seine Füße. Der andere, Jona, hat soeben den metallenen Hühnerstall auf dem Gelände entdeckt und steuert nun geradewegs auf ihn zu. Er beugt sich zu den beiden Hühnern hinunter, lockt sie mit kindlichen „put put!“-Rufen an, wirft ihnen Futter hin und verleiht seiner Überlegenheit auch in verbaler Form Ausdruck – denn wer hier das eingesperrte, schwache und erfolglose Lebewesen ist, das gierig seine Nahrung aufpickt, ist für ihn völlig klar. Doch das ist nur eine Frage der Perspektive: Denn in diesem Spiel sind es die Zuschauer:innen, also wir, die auf diese sechs unbekannten, „normalen“ Menschen herabschauen, sie in ihrem alltäglichen Dahinleben beobachten, sie erst belächeln, dann ernsthaft bemitleiden und ihnen das geben, nach dem sie sich alle so sehr verzehren: unsere Aufmerksamkeit. Doch wann sind Sichtbarkeit und Aufmerksamkeit eigentlich zu einer der wertvollsten Währungen unserer Gesellschaft geworden?
Im Jahr 2000, als die erste Staffel des Reality-TV-Formats „Big Brother“ über die Bildschirme deutscher Haushalte flimmerte und eine Zeitenwende in der Fernsehindustrie einläutete. Das jedenfalls ist eine der Thesen, die Autor und Regisseur Boris Nikitin mit seinem Stück „Erste Staffel. 20 Jahre Großer Bruder“ aufstellt. Anlässlich der 20. Jubiläumsstaffel widmete sich der Künstler dem Phänomen „Big Brother“ und inszenierte sein Stück im September 2020 am Staatstheater Nürnberg, mit dem er nun für den Mülheimer Dramatikpreis 2021 nominiert ist. Darin reichert er die Originaldialoge der einstigen „Container“-Bewohner:innen mit eigenen Texten und Auszügen aus George Orwells „1984“ an. Für seine Inszenierung hat sich Nikitin von Bühnen- und Kostümbildner David Hohmann einen Nachbau des Original-Containers auf die Bühne setzen lassen – inklusive kleiner Außenanlage samt Liegestühlen, Hantelbank, Stepper und Hühnerstall. Und darin lässt er nun sein sechsköpfiges Ensemble die erste Staffel in einem Reenactment nachspielen.
Was ist fake, was echt?
Wie Fische in einem Aquarium beobachten wir diese Menschen und sehen, wie sie Gewichte auf der Bank drücken, nachts auf die Toilette schleichen und sich die Hände nicht waschen oder einfach nur dasitzen und sich über Banalitäten des Alltags austauschen. Nah am Geschehen dran sind stets die installierten und mobilen Kameras, deren Bilder auf eine riesige Leinwand über dem Container projiziert bzw. auf die Bildschirme des Streampublikums geworfen werden. Welch ironische Tatsache, dass Nikitin die Reality-Show von den Fernsehbildschirmen auf die Theaterbühne holt, diese coronabedingt aber doch wieder im Streaming ausgespielt werden muss. Lohnt es sich dann noch das Reenactment anzuschauen, wenn man sich nicht auch gleich die erste Staffel in voller Länge nochmal im Internet reinziehen kann?
Ja, denn die von Nikitin aufgestellten Thesen werden in der Inszenierung wie ein greller Farbfilter auf die Dialoge und das gesamte Setting gelegt. Das erlaubt einem als Zuschauer:in ganz selbstständig den Bezug zu unserer heutigen Gesellschaft herzustellen. Eine 24/7-Überwachung wurde durch die Digitalisierung längst ermöglicht. Und das geschieht heute nicht mehr nur durch das mehr oder weniger geheime Abgreifen von Nutzerdaten, sondern durch unser eigenes Medienverhalten: Durch das Teilen von Fotos, Videos und Standorten geben wir jedem anderen Menschen die Chance, selbst zum „Großen Bruder“ zu werden. Der Wettbewerb um Sichtbarkeit und Aufmerksamkeit wird giftiger und die Inszenierung unserer Selbst und die unseres Alltags immer absurder. Das Zeitalter der Reality ist längst noch nicht an seinem Höhepunkt angekommen. Was fake und was real ist, lässt sich nicht mehr so einfach bestimmen. Wem oder was kann man noch trauen? Denn plötzlich scheint nicht mal mehr klar zu sein, ob nicht sogar die Dialoge, die die Spieler:innen führen, gescripted und damit überhaupt nicht original sind.
In der Schlussszene deckt einer der drei im Container verbliebenen Bewohner:innen die Kamera im Badezimmer mit einem Handtuch ab. Was im Jahr 2000 vielleicht noch so einfach funktioniert hat, hätte heute keine Wirkung mehr. Denn der „Große Bruder“ hat den Container längst verlassen und eine neue Gestalt angenommen.