Zwei Stücke Mülheim


Diskurs

In diesem Jahr kann das Stücke Festival zwar wieder stattfinden, aber nur im digitalen Raum. Damit gestalten sich die Mülheimer Theatertage dieses Jahr ganz anders als noch vor zwei Jahren. Clara Werdin war schon 2019 als StückeBlogger:in aktiv und erzählt von ihren Erinnerungen an die zentralen Orte des Festivals. Bloggerin Sabrina Fehring ist in diesem Jahr zum ersten Mal dabei und entdeckt die Orte in Mülheim auf eine ganz andere Art und Weise.

Weg in die Stadt

Sabrina: Es gibt ein Sprichwort, das sagt, man solle jedes Jahr an einen Ort reisen, den man noch nicht kennt. Dieses Jahr ist dieser Ort für mich Mülheim an der Ruhr. Zum Auftakt des Stückefestivals am 13. Mai begebe ich mich auf den Weg in die Stadt, in der sich normalerweise das gesamte Festival abspielt. Ich bin gemeinsam mit meiner Blogkollegin Hanna Kuhlmann hergefahren. Wir marschieren los, am Rathaus vorbei in Richtung vier.zentrale, die haben wir kurz vorher im Vorbeifahren schon entdeckt. Hanna bleibt plötzlich stehen und fotografiert ein leerstehendes Geschäft. Die Schaufenster sind mit Plakaten geschmückt. „Kein Vergessen“ steht auf einem Plakat. Darunter „Todesopfer rechter Gewalt in Deutschland nach 1945“. Um den Schriftzug herum sind viele Gesichter skizziert. Passend zum Stück, das das Festival eröffnet: „26/9 – Das Oktoberfestattentat“.

vier.zentrale

Clara: Vor zwei Jahren hieß die vier.zentrale noch Dezentrale. Für das Stückefestival 2019 wurde die Dezentrale zum Aufführungsort für die Inszenierung des Stücks „atlas“ von Thomas Köck. Die Dezentrale ist ein ziemlich kleiner Raum, in den nicht viele Zuschauer:innen passen und die Tickets für die zwei Veranstaltungstermine von „atlas“ waren restlos ausverkauft. Als StückeBlogger:innen durften wir uns deshalb die Generalprobe anschauen. Ich erinnere mich noch ganz genau an diesen Tag. Wir waren vielleicht vierzig Leute in dem kleinen Raum, saßen in den Stuhlreihen und schauten auf die riesige Fensterscheibe, vor der die Schauspieler:innen das Stück spielten. Draußen hat es geregnet, das konnte man sehen, und wie der ganz normale Verkehr hinter der Scheibe von statten ging. Alltag und Theater haben sich vor meinen Augen vermischt. „atlas“ ist eine der besten Inszenierungen, die ich je gesehen habe und übrigens auch das Stück, das 2019 gewonnen hat.

Sabrina: Wir entdecken die vier.zentrale. Dort hätten die Redaktionssitzungen stattgefunden, wäre nicht Corona. Heute zur Eröffnung des Stücke-Festivals treffen wir uns tatsächlich vor Ort. Ich bin zum ersten Mal beim Blog dabei, kenne also noch niemanden. Heute werde ich die Menschen, die ich die letzten Wochen schon viele Male online gesehen habe, zum ersten Mal live sehen, mit Abstand und Lüften. Ein komisches Gefühl ist es schon.

Brücke über die Ruhr

Sabrina: Von der vier.zentrale aus laufen wir in Richtung Ruhr. Entlang des Flusses sitzen einige Menschen und genießen die Sonne. Für einen Feiertag ist es ganz schön leer. Da, der Schriftzug „stuecke.de“ ziert ein großes Gebäude. Das muss die Stadthalle sein. Wir laufen über eine Brücke in Richtung der Stadthalle. Die Bögen über den Gehsteig haben den gleichen türkisen Farbton wie die Stücke in diesem Jahr. Hanna macht fleißig Fotos von der schönen Umgebung.

Clara: Wie oft sind wir über die Brücke zur Stadthalle gelaufen, alle Blogger:innen zusammen! Manchmal sind wir mitten auf der Brücke stehen geblieben, um Instagramstories zu machen oder haben uns nach einander umgedreht, um uns etwas zuzurufen. Einmal, das weiß ich noch, habe ich eine Blogkollegin beim Überqueren der Brücke gefragt: „Was ist das eigentlich für ein Fluss?“ So eine Frage muss man mal stellen, wenn man in einer Stadt ist, die „Mülheim an der Ruhr“ heißt. Das durfte ich mir das ganze Festival über immer wieder anhören.

Stadthalle

Clara: Oh, über die Stadthalle kann ich viel erzählen. Erstmal die Gestaltung! Wir kamen in die Eingangshalle und wussten gar nicht, was wir uns zuerst ansehen sollten. Auf dem Boden waren die Stücktexte gedruckt, in bunten Linien, die sich manchmal kreuzten und sich durch die ganze Halle erstreckten. Um zu lesen, musste man den Linien folgen, dorthin und dahin und wieder zurück. Im hinteren Bereich hingen riesige bunte Lampions, auf denen ebenfalls Zitate aus den Stücken aufgegriffen wurden. Direkt am Eingang konnte man Postkarten schreiben und manchmal standen als Marsmännchen verkleidete Menschen im Raum, um Infozettel oder Broschüren zu verteilen.

Vor den Inszenierungen hing eine leichte Aufregung in der Luft, die Eintrittskarte in der Hand, kurz davor, zerrissen zu werden. Das Gemurmel der Leute füllte den Raum. Die erste Inszenierung, die wir 2019 in der Stadthalle gesehen haben, war Sibylle Bergs „Wonderland.Ave“ und das war genau das Stück, zu dem ich meine allererste Theaterkritik schreiben sollte. Man, war ich aufgeregt. Ich saß im rotgepolsterten Theatersessel, links und rechts von mir Blogkolleg:innen, und hab im Dunkeln versucht, mir Notizen in meinen Block zu schreiben.

Ich erinnere mich auch an die Wege vom Aufführungssaal zurück in die Eingangshalle. An den Austausch mit den anderen: „Wie fandest du das Stück?“ Und: „war es für dich auch so schwer, nicht los zu tanzen, als in der Inszenierung plötzlich „Yeah“ von Usher gespielt wurde?“ Wir hatten alle kleine Bewertungszettel mit den Wörtern „sehr gut“, „gut“, „mittel“ und „schlecht“, die wir am Ausgang in eine Box werfen konnten. So wurde am Ende der Publikumspreis vergeben. Einmal ging sogar zufällig der Stückeautor nach der Aufführung neben mir nach draußen. „Haben Sie der Inszenierung selbst ein „sehr gut“ gegeben?“ habe ich ihn gefragt. Ich glaube, er hat damals geantwortet: „Nein, dieses Mal fand ich’s nur so mittel.“

Ich könnte noch viel mehr erzählen. Von den Publikumsgesprächen, in denen man die Möglichkeit hatte, Fragen zu stellen oder von der Seilsprung-Aufführung der Studierenden der Szenischen Forschung Bochum. Ich könnte von Interviews erzählen, die wir in der Stadthalle führen konnten und von den Begegnungen und Bekanntschaften, die man vor Ort machen konnte. Aber dann würde aus diesem Text ein vier Seiten langer Tagebucheintrag werden, den ich später mit Herzchen am Rand versehen müsste.

Sabrina: Die Stadthalle sieht wirklich schön von außen aus. Nach Claras Bericht werde ich echt traurig, dass wir nicht in die Stadthalle hinein gehen können und überhaupt gar nichts dort erleben dürfen in diesem Jahr. Hanna und ich schauen durch die verglaste Eingangstür. Der Raum dahinter liegt im Dunkeln. Ich hoffe, dass nächstes Jahr alles wieder vor Ort stattfinden kann!

Ringlokschuppen

Sabrina: Vor der Stadthalle entdecke ich ein Schild, das den Weg in Richtung Ringlokschuppen weist. Dort angekommen entdecken wir zunächst das Schloss, eine mittelalterliche Burg mitten in der Stadt – wirklich beeindruckend! Und der Park strahlt an diesem sonnigen Nachmittag von seiner besten Seite. Ich kann mir gut vorstellen, dass man hier perfekt warme Tage und sternenklare Nächte mit dem ein oder anderen Bierchen in der Hand verbringen kann, während man über Theaterstücke diskutiert!

Clara: Nach der Eröffnung des Stückefestivals 2019 haben sich die Leute, die für das Festival gearbeitet haben, vor der Eingangstür der Stadthalle getroffen. Dann gab es für alle ein Wegbier. Zusammen sind wir zum Ringlokschuppen gegangen und haben uns über Theater unterhalten, über Regisseur:innen, naja, und über’s Essen. Im Ringlokschuppen wurde aufgetischt und wir konnten mit dem Ensemble vom Schauspiel Köln den Abend verbringen.

Ein paar Tage später haben wir die Festivalleiterin Stephanie Steinberg vor dem Ringlokschuppen interviewt. Die Sonne schien, es war ein richtig schöner Sommertag, wir haben Eis gegessen und uns über riesengroße Produktionen, ausgebuchte Hotels und Rindenmulch unterhalten. Just Mülheimer-Theatertage-things.

Theater an der Ruhr

Clara: Im Theater an der Ruhr haben die Mülheimer Theatertage begonnen und auch geendet. Die Jurydebatte fand dort statt und nach einer langen Diskussion wurde das Gewinnerstück „atlas“ von Thomas Köck bekannt gegeben. Am Ende des Abends haben wir Blogger:innen mit Sekt angestoßen, auf die schöne Zeit, und sind später im Taxi zusammen zu unserer Blog-Wohnung in der Innenstadt gefahren. Dort hatten wir eine Discokugel und haben zu „Souper Trouper“ von Abba getanzt. Am nächsten Morgen sind wir zusammen durch die Stadt gelaufen. Mit einem Heliumluftballon, den wir vom Festival geklaut hatten. Die Stadt war leer, die Luft flirrte vor Hitze.  Das war das letzte Mal Mülheim an der Ruhr für uns, das Stücke-Festival 2019 war vorbei. 

Sabrina: Weil das Theater an der Ruhr ein wenig abseits von der Innenstadt liegt, schaffen Hanna und ich es leider nicht, auch dort hinzufahren. Die Jurydebatte werden wir in diesem Jahr vermutlich online verfolgen. Das wird eine andere Erfahrung sein, als sich live sehen zu können. Aber keine schlechte Alternative. Ich bin gespannt, welche Geschichten wir am Ende der Mülheimer Theatertage 2021 zu erzählen haben werden. Und vor allem, welches Stück dieses Jahr gewinnt. Vielleicht stoßen wir Blogger:innen dann einfach online an, über unsere Bildschirme.