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Wer erinnert sich an München?


Diskurs

Sind die Deutschen nicht die Weltmeister des Erinnerns? Das sagt man uns Deutschen doch nach. Unsere umfassende Erinnerungskultur zum Holocaust gilt als weltweites Vorbildmodell. Die Bereitschaft getanes Unrecht einzugestehen und öffentlich wie im Privaten demutsvoll zu erinnern, scheint in Deutschland so ausgeprägt wie sonst nirgendwo. Aber das ist ein Trugschluss. Wir kennen und zelebrieren das selektive Erinnern. Zum Beispiel ein Erinnern an Taten, die inzwischen so lange zurückliegen, dass es nur noch wenige Zeitzeugen gibt.

Dies ist kein Plädoyer gegen Erinnerungskultur und für Vergessen! Wir brauchen das Erinnern an den Holocaust. Heute mehr denn je. Aber ein Erinnern an Taten, die fast niemand in unserer Gesellschaft tatsächlich erlebt hat, ist von anderer Qualität als ein Erinnern an Geschehnisse, die einer gelebten Gegenwart entspringen. Zurzeit wird wieder viel durch aktuellen Anlass in den Medien über rechtsextreme Gewalt gesprochen. Die Namen der Städte, in denen sie verübt wurde, reichen aus und wir erinnern uns sofort: Halle, Kassel, Hanau (um nur die bekanntesten zu nennen). Aber München?

Was war geschehen? 

Am 26. September 1980 zündete ein rechtsextremer Student eine Bombe in einem Abfallkorb am Haupteingang zum Münchner Oktoberfest. 13 Menschen starben, mehr als 200 weitere Menschen wurden teils schwer verletzt. Es war bis heute der schwerste rechtsterroristische Anschlag in der Bundesrepublik. Hans Roauer, ein Überlebender des Oktoberfestattentats bringt es in Christine Umpfenbachs Stück „9/26 - Das Oktoberfestattentat“ mit folgenden Worten auf den Punkt: „Was ist in der Stadt München am 26.9.1980 passiert? Ich gebe Ihnen Brief und Siegel drauf, dass von zehn Personen, achte mit der Schulter zucken. Sowas ghört eigentlich in die Geschichtsbücher mit hinein und dafür kämpfe ich.“

Warum fehlt uns eine Erinnerungskultur zum Oktoberfestattentat? Warum muss dieser Mann, ein Überlebender, dafür kämpfen, dass man sich an einen solchen Anschlag erinnert? Wie kann das sein? Zum einen liegt es sicherlich daran, dass es lange ein Leugnen von gesellschaftlicher und politischer Verantwortung gab. Anders als das Erinnern des Holocausts verlangte das Oktoberfestattentat 1980 kein Rückbesinnen. Ein Rückbesinnen, das ja immer auch die Möglichkeit einer klaren Abgrenzung bietet. Gefordert gewesen wäre die gegenwärtige Beschäftigung mit radikalen rechten Strukturen in der deutschen und europäischen Gesellschaft, die die Kompetenz und den Mut der deutschen Politik und Öffentlichkeit aber letztlich überstieg. Auch konnte man nicht – wie beim Gedenken an das Attentat auf die Türme des World Trade Centers 2001 – die Schuld und Verantwortung einer externen Gewalt zuschieben. Dieser Terror, der das Oktoberfestattentat verursachte, war hausgemacht und kam aus der eigenen Bevölkerung. Statt die Tat umfassend aufzuklären, wurde auf der Annahme eines verwirrten Einzeltäters bestanden. Ein Narrativ, das uns bis in die Gegenwart begleitet, wenn von rechtsextremen Taten gesprochen wird.

Die Konsequenzen

Solange die Tat politisch geleugnet oder ignoriert wird, ist auch der Anspruch auf und der Raum für gesamtgesellschaftliches Erinnern geschmälert. Dieses Erinnern ist wiederum notwendig, damit Betroffene und Überlebende eines Attentats Unterstützung einfordern können: finanziell, psychologisch, symbolisch. Auch davon erzählt Christine Umpfenbachs Rechercheprojekt: wie Verletzungen und Traumata der Überlebenden bagatellisiert, Unterstützungen systematisch verbaut, und Betroffene allein gelassen wurden. Zwar wurde im Jahr nach dem Attentat symbolisch ein Denkmal auf der Theresienwiese in München errichtet und von städtischer Seite eine Gedenkfeier ausgerichtet. Danach passierte allerdings nicht mehr viel. Im Gegenteil – viel drastischer war der Wunsch des Vergessens: Bereits einen Tag nach dem Attentat wurde die Wiesn wieder geöffnet, der Asphalt war frisch geteert.

Die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann schreibt in ihrem Buch „Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention“, dass es ein Merkmal egomaner und monologischer Nationen sei, selbstherrlich ihre eigene Geschichte zurechtlegen zu wollen und damit die Geschichte von Minderheiten, anderen Nationen oder Opfergruppen durch Ausschluss zu leugnen. Sind wir als Gesellschaft wirklich so selbstherrlich, dass wir meinen, wir können es uns leisten diese Geschichten, wie die des Oktoberfestattentats, zu ignorieren? Diese Geschichten zu leugnen, bedeutet auch immer Unrecht zu verschleiern und eine Aufarbeitung von Traumata und damit einen Heilungsprozess für betroffene Gruppierungen und Individuen zu verhindern.

Appell an das Nicht-Vergessen

Hier liegt die tiefgreifende und wichtige Bedeutung einer Erinnerungskultur. Sie wirkt als Kraft gegen Egomanie und Selbstherrlichkeit und pocht auf Empathie und Gemeinsinn. Sie ermöglicht einen gesellschaftlichen Raum des Heilens. Dieser Raum ist für die Überlebenden und Betroffenen des Oktoberfestattentats letztes Jahr endlich auch von staatlicher Seite durch die Einstufung des Attentats durch den Generalbundesanwalt als rechtsextremistische Tat weit aufgestoßen worden. 40 Jahre nach dem Anschlag lässt sich diese Tat klar zuordnen. Sie war politisch motiviert. Kein verrückter Einzeltäter ist schuldig, sondern ein Netzwerk an rechtsextremen Strukturen, das diesen Täter hervorbrachte und ebenso potentielle Mittäter:innen, die bis heute nicht ermittelt werden konnten. Diese Bestätigung ist ein wichtiger Bestandteil zur Aufklärung und Bildung über rechte Gewalt, es ist ein Appell an das Nicht-Vergessen und ein Eingeständnis staatlichen und öffentlichen Versagens.

2019 stellte die empirische Befragung des Bielefelder Monitors fest: „Eine Zivilgesellschaft, die sich aktiv erinnert und Geschichte nicht verdreht, kann Bedrohungen der Demokratie besser begegnen“. Eine aktive Erinnerungskultur ist somit „eine wichtige Quelle der Zivilcourage“. Gerade eine Gesellschaft wie die unsere, die unter wachsendem nationalistischen Druck steht, braucht unter anderem eine ausgeprägte Erinnerungskultur, um diesem stark entgegen treten zu können. Christine Umpfenbach hat mit ihrem Rechercheprojekt „9/26 – Das Oktoberfestattentat“ ein Angebot zur Erinnerung geschaffen, das um Aufklärung und Bildung bemüht ist, aber auch große Empathie mit den Betroffenen und Hinterbliebenen zeigt. Die Autorin füllt den Raum der Erinnerung an das Oktoberfestattentat mit ihrem Stück und ermöglicht uns dadurch aktiv an der Erinnerung teilzunehmen. Ein Angebot, das wir annehmen sollten!